Timeless: Roman (German Edition)
Tür geräuschlos aufschwang. Sieht ganz so aus, als könnte ich allein zurechtkommen , dachte Michele erleichtert.
Auf Zehenspitzen verließ sie den Raum und schlich die Treppe hinunter bis zur Haustür. Einen Moment lang stand sie im Vorgarten, dann stieß sie das Tor auf und trat hinaus auf die Fifth Avenue.
Das alte New York war düster, totenstill und verwaist – ein starker Kontrast zu den geschäftigen und hell erleuch teten Nächten im modernen New York. Hier wurden die Straßen nur vom schwachen Schein der Straßenlampen beleuchtet. Michele fröstelte. Der Gedanke, dass sie in diesen frühen Morgenstunden allein war – hundert Jahre vor ihrer Zeit – machte ihr Angst.
Plötzlich entdeckte sie eine Gestalt, die vom Walker Mansion her auf sie zukam. Michele erstarrte. War es Philip? Er hatte den Kopf gesenkt und trug immer noch seinen Smoking vom Ball. Als er näher kam und sie entdeckte, blieb er abrupt stehen. Sie standen ein Stück voneinander entfernt und blickten sich in die Augen. Michele verschlug es den Atem. Selbst in der Dunkelheit ließ sich nicht übersehen, wie unglaublich gut er aussah.
»Was machen Sie hier zu dieser Stunde?«, fragte Philip nach langem Schweigen.
»Dasselbe könnte ich Sie fragen«, erwiderte Michele und bemühte sich, locker zu klingen.
Er kam einen Schritt näher und stand jetzt genau unter einer Straßenlampe. Michele erschrak, als sie seine linke Wange sah – verschrammt und tiefrot. »Was ist passiert?«, rief sie.
»Das war mein Onkel«, erwiderte Philip mit stoischem Gleichmut. »Unser kleines Tänzchen hat mir eine ordentliche Tracht Prügel eingebracht.«
»O Gott, das tut mir leid.« Ohne zu überlegen, eilte Michele auf ihn zu. »Wie konnte er Ihnen das nur antun? Wo waren Ihre Eltern?«
Philip lachte verbittert. »Der Bruder meines Vaters ist jetzt Herr des Hauses. Seit mein Vater vor zwei Jahren gestorben ist, kann mein Onkel tun und lassen, was er will, und meiner Mutter ist es egal. Sie interessiert sich nur für ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen.«
Einen Moment lang blickte Michele ihn einfach nur an. Er war sichtlich unglücklich, ganz anders als der unbekümmerte, lächelnde Philip ihrer Träume.
»Tut mir leid«, sagte sie dann ruhig und berührte sacht seine verletzte Wange. Er zuckte zusammen, wehrte jedoch ihre Hand nicht ab.
»Wer sind Sie?«, fragte er leise. »Was haben Sie mit mir gemacht?«
Michele wich zurück. »Wie meinen Sie das?«
»Warum sehe ich jemanden, den sonst niemand sieht – warum habe ich Gefühle, die ich nicht haben sollte?«
»Was für Gefühle?«, platzte es aus Michele heraus.
Philip wandte den Blick ab. »Ich … ich weiß nicht.«
Nach kurzem Schweigen sagte Michele: »Ich glaube nicht, dass ich es erklären kann. Ich verstehe es ja selbst nicht.«
»Bitte, versuchen Sie es.« Flehend sah Philip sie an. »Bitte beantworten Sie zumindest meine Fragen.«
Michele schluckte schwer. »In Ordnung.«
»Sind Sie ein menschliches Wesen oder … oder ein Phantom?«
Am liebsten hätte Michele laut aufgelacht. Dass ihr mal jemand diese Frage stellen würde, hätte sie sich im Traum nicht vorstellen können.
»Hm, ich bin ein Mensch.«
»Aber warum kann Sie dann außer mir niemand sehen?« Philip kräuselte die Stirn. »Sie sind also lebendig, oder?«
»Ich bin lebendig … aber nicht auf dieselbe Weise wie Sie«, gab Michele zu und staunte über ihre eigene Ehrlichkeit. Sie hatte nicht vorgehabt, ihm die Wahrheit zu sagen, aber sie konnte ihn unmöglich belügen.
»Michele.« Sie blickte auf, direkt in seine Augen, die plötzlich freundlich und sanft waren. »Sie können es mir sagen.«
Michele nickte langsam und überlegte, wie es wohl wäre, wenn sie es jemandem erklärte. Vielleicht konnten sie der Sache gemeinsam nachgehen und herausfinden, wie es kam, dass sie sich schon gekannt hatten, bevor sie sich überhaupt begegnet waren.
»In Ordnung«, stimmte sie zu. »Aber lassen Sie uns weitergehen.«
Langsam schlenderten sie die Fifth Avenue entlang. Michele hielt den Blick gesenkt. Plötzlich sprudelte es aus ihr heraus: »Die Wahrheit ist, dass ich eine Windsor bin. Nachdem meine Mutter gestorben war, bin ich nach New York gegangen, um bei meinen Großeltern im Windsor Mansion zu leben. Das Problem ist nur …. ich komme aus der Zukunft … aus dem Jahr 2010.«
Philip blieb abrupt stehen, starrte sie an und lachte unbehaglich. »Sie haben ja eine blühende Fantasie.«
»Nein, es ist die Wahrheit.«
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