Timeless: Roman (German Edition)
Höhenrekorde gebrochen werden sollen. In den letzten Jahren wurden das Telefon eingeführt, das Auto, das Grammofon, die Kodak-Kameras und dergleichen mehr. Doch gleichzeitig gelten für uns weiterhin die Regeln und Bräuche der 1890er-Jahre.«
»Ein Leben zwischen Alt und Neu«, wiederholte Michele nachdenklich. »Genau das führe ich zurzeit auch.«
»Letztlich sind die Unterschiede zwischen uns wohl gar nicht so groß«, bemerkte Philip und grinste.
»Ich hab überhaupt nicht das Gefühl, dass wir unterschiedlich sind«, sagte Michele ernst. »Klar, uns trennen hundert Jahre, aber … ich weiß auch nicht, warum, aber ich habe das Gefühl, dich sehr gut zu kennen.«
Philip nickte bedächtig. »Ich weiß, was du meinst.«
Sie deutete aufs Klavier. »Spielst du etwas für mich?«
»Natürlich, gern.« Philip lächelte und wandte sich den Tasten zu. Michele wusste instinktiv, was er spielen würde. Als seine Finger die Tasten berührten, erklang Schuberts Serenade .
»Unser Lied«, bemerkte er augenzwinkernd und ließ die Finger über die Tasten huschen.
Michele schloss die Augen und genoss die wunderbare Musik, bei der ihr Gänsehaut die Arme hinaufkroch. Als er das Lied beendet hatte, bat sie ihn, eine seiner Ragtime- Kompositionen zu spielen. Als er eine gefühlvolle Melodie im Swingrhythmus anschlug, hatte Michele das unwirkliche Gefühl, einer entstehenden Legende zu lauschen.
»Du bist der geborene Komponist«, erklärte sie leiden schaftlich, als das Stück zu Ende war. »Wirklich.«
Einen Augenblick lang dachte Michele an ihre eigenen Texte und fragte sich, ob sie sich selbst auch so beurteilen würde. Aber mein Talent ist nichts, verglichen mit seinem. Vor allem jetzt nicht, wo ich schon seit einem Monat kein Wort mehr zu Papier gebracht habe , dachte sie sarkastisch.
»Ich glaube, du bist die Einzige, der meine Kompositionen gefallen«, gestand Philip. »Natürlich mag ich auch klassische Musik, aber meine wahre Leidenschaft gilt dieser neuen Musik aus dem Süden.« Er setzte eine entschlossene Miene auf. »Niemand traut es mir zu, doch mehr als alles auf der Welt wünsche ich mir, mir einen Namen als Komponist zu machen. Und ich möchte, dass unsere Gesellschaft nicht mehr den hasserfüllten Begriff ›Negermusik‹ benutzt. Ich habe immer daran geglaubt, dass Musik die Menschen zusammenbringt und sie nicht noch weiter entzweit.«
»Du hast recht«, stimmte Michele zu. Sie saß noch immer neben ihm auf dem Klavierschemel. »Du bist deiner Zeit einfach voraus. Warte nur, eines Tages werden die Menschen es kapieren. Und wenn irgendjemand Erfolg mit der Musik hat, dann du. In meiner Zeit kenne ich niemanden, der so spielt.«
Er blickte sie an. »Es ist ein wunderbares Gefühl, dass du an mich glaubst.«
Sein inniger Blick erregte Michele, machte sie gleichzeitig jedoch verlegen. Sie schaute auf die Klaviertasten und versuchte, ihren rasenden Herzschlag zu beruhigen. Doch dann hob Philip sanft ihr Kinn an, und sie blickte wie hypnotisiert in diese saphirblauen Augen. Langsam näherte sich sein Gesicht dem ihren, und seine Lippen berührten ihren Mund. Michele bekam weiche Knie, hatte Schmetterlinge im Bauch, allein durch die Berührung seiner Lippen. Sie schlang die Arme um seinen Hals und zog ihn näher zu sich heran. Sie küssten sich leidenschaftlich; es war der innige Kuss zweier Menschen, die ein Leben lang aufeinander gewartet hatten. O Gott , dachte Michele, als sie seine Lippen an ihrem Hals und auf ihrem Haar spürte. Das ist also das Gefühl, über das alle schreiben, das sie besingen und von dem sie träumen.
Als sie es schließlich schafften, wieder voneinander zu lassen, lehnte sich Michele an seine Brust. Philip legte den Arm um sie und bedeckte ihre Schultern mit seiner schwarzen Jacke, damit sie nicht fror. Sie schloss die Augen. Das erste Mal seit dem Tod ihrer Mutter war sie wieder glücklich.
Sie fragte sich, welche Auswirkungen all das wohl auf Philips Verlobung mit Violet haben würde. Obwohl sie Violet nicht ausstehen konnte, empfand sie leichte Schuldgefühle, wenn sie daran dachte, dass sie sich in eine Beziehung einmischte, zumal sie ja nur eine Reisende war und nicht immer in Philips Zeit leben konnte. Doch sie spürte auch, dass Philip und sie zusammengehörten, dass die Träume, die sie seit all den Jahren hatte und der Schlüssel ihres Vaters wie eine Straßenkarte waren, die sie schließlich zu ihm geführt hatten.
Nach einer Weile wurde Michele bewusst, dass sie
Weitere Kostenlose Bücher