Timeless: Roman (German Edition)
sich, während sie die Treppe zu ihrem Zimmer hochrannte. Ihr Handy meldete eine SMS . Schnell zog sie es aus der Tasche. Die Nachricht war von Kristen, die sich erkundigte, wo Michele steckte.
Schuldbewusst erinnerte sich Michele, dass sie in den letzten Tagen die Anrufe ihrer Freunde nicht beantwortet hatte – seit ihrem ersten Trip ins Jahr 1910. Und obwohl sie sie vermisste, fühlte sie sich noch nicht imstande, sie zurückzurufen. Sie kannten sie so gut, dass sie sofort erkennen würden, dass sie anders war als sonst – und Michele hatte keine Ahnung, wie sie das erklären sollte.
Da sie nicht in der Stimmung war, sich ihren Hausaufgaben zu widmen, ging sie in ihr Wohnzimmer und suchte Lesestoff. Als sie den mit Glastüren versehenen Bücherschrank öffnete, entdeckte sie eine kleine weinrote Spieldose aus Porzellan, die sie noch nicht bemerkt hatte. Michele öffnete den Deckel, und es erklang Chopins faszinierende Nocturne 19 in E-Moll. Diese Spieldose war zweifellos sehr alt, denn die Melodie wurde immer wieder unterbrochen, und der Klang war leise und blechern. Dennoch war die Melodie so schön, dass sich Michele wünschte, sie könnte sie ohne all diese Störungen hören.
Plötzlich ließ sie ein Geräusch aus dem unteren Stockwerk auffahren. Vor Schreck hätte sie fast die Spieldose fallen lassen. Gerade hatte sie sich gewünscht, sie könnte die Melodie in Vollendung hören, und schon wurde ihr der Wunsch erfüllt, denn unten wurde sie anscheinend von einem Virtuosen gespielt.
Verblüfft blickte sich Michele in ihrem Zimmer um. Der Fernseher und die Musikanlage waren durch einen zierlichen weißen Teetisch ersetzt worden, und anstelle der elektrischen Beleuchtung brannten Gaslampen. Ich bin wieder im Jahr 1910 , stellte sie mit Erstaunen fest. Urplötzlich war sie wieder auf Zeitreise geschickt worden. Doch die Musik zog Michele vollends in ihren Bann. Wer konnte so göttlich spielen?
Sie hatte immer geglaubt, Lily sei die einzige Windsor gewesen, die musikalisches Talent hatte, doch 1910 war Lily noch ein Baby gewesen.
Michele rannte die Treppe hinunter, der Musik nach, die in den Ballsaal führte. Sie stand in der Tür und sah, wie die Windsor-Damen voller Bewunderung einen jungen Mann umringt hatten, der Klavier spielte. Er saß mit dem Rücken zu Michele. Henrietta hatte ein kleines Mädchen auf dem Schoß. Das musste ihre jüngste Tochter Frances sein. Beide lauschten ernst. Violet stand neben ihnen und lächelte zufrieden. Wo ist Clara? , fragte sich Michele.
Jetzt lenkte sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf den jungen Mann am Klavier – und erstarrte. Das dichte dunkle Haar, die Hände und die stolze Haltung – es war Philip.
Ehrfürchtig beobachtete sie, wie seine Finger über die Tasten flogen. Er hatte die Augen geschlossen, sein Körper bewegte sich zur Musik. Er spielte mit der Leidenschaft eines Menschen, der seine ganze Seele in das Mu sikstück legt. Dieser Anblick weckte eine tiefe Sehnsucht in Michele.
Als der letzte Ton verklungen war, klatschten die Frauen höflich Beifall. Philip wandte sich ihnen zu, stutzte und holte tief Luft, als er Michele entdeckte. Einen Augenblick lang befürchtete sie, er freue sich nicht, sie zu sehen, doch dann lächelte er strahlend, und sie fühlte, wie ihr warm ums Herz wurde.
»Philip? Wohin zum Teufel schaust du?«, fragte ihn Violet.
»Nirgendwohin«, erwiderte er und riss sich zusammen.
»Was spielst du jetzt?«, fragte Frances mit Piepsstimme.
Philip hielt kurz inne. Obwohl er dann zu den anderen sprach, verriet ihr ein kurzer Blick, dass er eigentlich sie meinte. »Ich spiele jetzt etwas, das ich selbst komponiert habe«, erklärte er.
Er wandte sich wieder dem Klavier zu und spielte eine Melodie, die sich grundlegend von Chopins Nocturne unterschied. Diese Musik hatte einen synkopierten, swingenden Rhythmus und erinnerte Michele an den Jazz in New Orleans. Philips Finger huschten über die Tasten, seine Hände schienen im Wettbewerb miteinander zu stehen. Die Melodie war bezaubernd, eingängig, und Michele bewegte sich unwillkürlich im Rhythmus. Violets Anwesenheit erinnerte Michele schmerzhaft daran, dass Philip gebunden war – und dennoch fühlte sie sich noch mehr in seinem Bann, seit sie wusste, wie musikalisch er war.
»Hör sofort damit auf.«
Unter Henriettas eisigem Kommandoton zuckte Michele zusammen. Verwirrt hörte Philip auf zu spielen. Violets Gesicht war purpurrot, und sie sah aus, als habe sie in etwas ungeheuer
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