Timeless: Roman (German Edition)
deshalb hier?«
»Und was ist das für eine missliche Lage?«, wollte Michele wissen.
»Nun …« Lily betrachtete sie eine Weile lang nachdenklich, als wollte sie abschätzen, ob Michele vertrauenswürdig war. »Gut, ich will dich einweihen. Ich muss mich hier rausschleichen, um am großen Gesangswettbewerb im Cotton Club teilzunehmen.«
»Aber warum musst du das? Du bist …« Michele konnte sich gerade noch rechtzeitig bremsen, denn vermutlich war Lily noch nicht bekannt geworden.
Lily erklärte ihr voller Ungeduld: »Dieser Wettbewerb könnte mein großer Durchbruch sein! Wir müssen eine Möglichkeit finden, wie ich dorthin komme.«
»Okay, aber zuerst muss ich dich etwas fragen.« Michele atmete tief durch. »Weißt du etwas über Philip Walker? Wohnt er immer noch nebenan?«
Lily beäugte sie misstrauisch. »Wissen denn Geister nicht alles?«
»Bitte, sag’s mir«, bettelte Michele. »Bitte.«
»Ist ja schon gut. Er wohnt nicht mehr nebenan, seit Jahren schon nicht mehr. Ich glaube, ich habe munkeln gehört, dass er irgendwo in London wohnt. Aber ich habe das Ekelpaket nie gesehen. Nachdem er die Verlobung mit meiner Cousine Violet gelöst hat, ich war ja damals noch ein Baby, waren die Walkers für meine Familie gestorben. Anscheinend trauerte er einem anderen Mädchen nach.« Lily rollte mit den Augen, als wollte sie sagen: Wie kann man nur der hinreißenden Violet ein anderes Mädchen vorziehen . »Natürlich haben wir die mürrischen Walkers seit damals gehasst. Aber Rache ist süß: Daddy ist gerade dabei, Mr. Walker aus dem Grundstücksgeschäft zu verdrängen«, erzählte Lily verschwörerisch.
Michele starrte Lily an. Ihr brummte der Schädel von all den Neuigkeiten. War sie die Ursache für die große Windsor-Walker-Fehde? Das leuchtet ein. Ich hätte es schon früher erkennen müssen , dachte Michele. Doch sie hatte immer angenommen, der Zwist sei durch etwas anderes entstanden – vielleicht durch eine Geschäftsfehde –, aber nicht durch sie. Bei der Vorstellung, dass alles ihre Schuld sein könnte, war ihr etwas mulmig zumute. Schlimmer war aber, dass Philip nicht in New York war. Wie sollte sie so auch nur den Hauch einer Chance haben, ihn zu retten? Ich muss ihn finden , begriff Michele. Es muss eine Möglichkeit geben, ihn hierher zu bringen .
»Was meinst du, wie kommen wir zum Club?«, drängte Lily. »Er liegt nämlich in Harlem.«
»Lass mich nachdenken.« Michele tigerte im Zimmer auf und ab, dann blieb sie plötzlich stehen und sah Lily an. Moment , dachte sie, in ihrem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Lily ist Sängerin, und ich weiß ganz sicher, dass sie einmal berühmt wird. Ich gebe ihr die Lieder, die ich mit Philip geschrieben habe, und sie singt sie … dann weiß er nicht nur, dass ich hier bin, sondern es könnte auch seine Karriere in Schwung bringen . Natürlich musste sie sich ein Pseudonym für ihn einfallen lassen, denn Lily würde bestimmt keinen Finger rühren, um einem »mürrischen Walker« zu helfen. Doch das könnte der große Durchbruch sein, den er brauchte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass er sein Leben wegwerfen würde, wenn er es geschafft hatte, die Menschen mit seiner Musik zu erreichen.
»Lily, ich glaube, wir können uns gegenseitig helfen«, sagte sie unvermittelt. »Ich bring dich zum Cotton Club. Aber du musst bitte meine Lieder singen.«
»Wie bitte?«, rief Lily und warf ihr einen beleidigten Blick zu. »Seit wann haben Geister Eigeninteressen und führen harte Verhandlungen? Im Übrigen habe ich das Lied, das ich vorsingen will, längst geübt.«
»Ich meine nicht heute Abend, sondern in nächster Zeit. Und du brauchst sie nicht zu singen, wenn sie dir absolut nicht gefallen«, versicherte Michele ihr und hatte ein schlechtes Gewissen dabei, ihre Urgroßmutter zu erpressen. »Aber ich habe ein … gutes Gefühl, was diese Songs angeht. Sie würden zu dir passen.« Sie warf Lily einen bedeutungsvollen Blick zu. »Vielleicht solltest du in dieser Beziehung deinem Geist vertrauen.«
»Na, was soll’s«, lenkte Lily ein. »Ich höre sie mir an, aber später. Wie sieht nun dein großer Plan aus?«
»Deinen Eltern erzählst du, du übernachtest bei einer Freundin, aber es muss unbedingt eine Freundin sein, die dich deckt, falls sie anrufen. Statt dann zu deiner Freundin zu gehen, kommst du mit mir zum Plaza Hotel, wo wir ein Zimmer reservieren. Von da aus nehmen wir ein Taxi nach Harlem.« Während Michele ihren Plan
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