Timeless: Roman (German Edition)
»Aber … ich habe eine Idee, wie du es vielleicht herausfinden könntest.«
»Sag schon«, drängte Michele sie.
»Glaubst du, du kannst dich in die Jahre nach 1920 versetzen, in die Zeit, bevor er starb? Judy hat gesagt, das war 1927, richtig? Wenn du kurz davor zu ihm gelangen kannst, dann kannst du dich höchstpersönlich davon überzeugen, ob er okay ist oder nicht … dann hast du eine Chance, etwas zu tun.«
Michele starrte Caissie an. »Das ist genial. Ich hab nur nichts, um in die Zwanzigerjahre zurückzukehren. Ich bräuchte so was wie Claras Tagebuch.«
»Du kannst dich doch nach der Schule mal im Haus umsehen«, schlug Caissie vor. »Irgendwas muss es doch geben.«
»Wart mal!«, rief Michele. »Ich hab was, allerdings aus dem Jahr 1925.«
»Das ist zeitnah genug.« Caissies Augen leuchteten auf. »O Gott. Du siehst die Goldenen Zwanziger mit eigenen Augen!«
Zu Hause angelangt, raste Michele hoch in ihr Zimmer. Sie riss die Schublade ihres Schreibtischs auf, in dem sie Lily Windsors Notenheft aufbewahrt hatte. Es war ihr in die Hände gefallen, als sie vor Wochen im Dachgeschoss herumgestöbert hatte, aber sie hatte es in der Zwischenzeit ganz vergessen.
»Bitte, lass es funktionieren«, flüsterte Michele.
Mit einer Hand umfasste sie den Schlüssel an ihrer Halskette, mit der anderen schlug sie das Notenheft auf der ersten Seite auf. Als sie den Titel des Lieds »Dafür geschaffen« las, der in Lilys krakeliger Schrift geschrieben war, vertiefte sich Michele in die Seiten, genauso wie sie es mit Claras Tagebuch getan hatte. Und dann spürte sie, wie die Zeit sie erfasste und in rasender Geschwindigkeit durch die Luft wirbelte. Das hat Caissie wohl mit »schneller als Lichtgeschwindigkeit« gemeint , überlegte Michele. Sie fiel durch den Zeittunnel und stieß einen markerschütternden Schrei aus.
» Allmächtiger! Wer bist du und woher kommst du?«
Michele blickte hoch und sah sie vor sich, ihre Urgroßmutter, die berühmte Sängerin – noch bevor sie ein Star war. Ihr kastanienbraunes Haar war genau wie auf dem Foto in Micheles Zimmer zu einem welligen Bob frisiert, und sie trug ein knielanges Plisseekleid. Ohne das dick aufgetragene Make-up auf dem Foto sah Lily jugendlich aus, vielleicht sogar noch jünger als Michele.
Michele bedachte sie mit einem zaghaften Lächeln, kurzfristig von all ihren Sorgen abgelenkt. Nie im Leben hätte sie sich vorstellen können, dass sie die Lily Windsor treffen würde. Und das Schlafzimmer – es sah völlig anders aus als Claras oder Micheles. Es war ganz im Art-Déco-Stil eingerichtet, auf dem Tisch verstreut lagen Kosmetika und Accessoires, und an den Wänden hingen Bilder, die Berühmtheiten wie Douglas Fairbanks jr. und Ziegfeld Follies zeigten.
»Ich bin Michele«, stellte sie sich schließlich ihrer Urgroßmutter vor.
Dann erinnerte sie sich daran, was sie Clara erzählt hatte, räusperte sich und sagte unbeholfen: »Ich bin ein Geist.«
»Wie bitte?«, brüllte Lily. »Ein Geist ? Ich habe dir nichts getan, verschwinde.«
Na gut, 1910 waren Geister wohl besser angesehen als in den Zwanzigern.
»Nein, nein«, beschwichtigte Michele sie schnell. »Nicht diese Art Geist. Ich bin ein guter Geist. Ich bin hier, um dir zu helfen.«
Misstrauisch starrte Lily sie an. »Das sagst du! Warum sollte ich dir glauben?«
Michele zuckte die Achseln. »Mache ich einen furchterregenden Eindruck auf dich?«
»Nicht unbedingt«, gab Lily zu und musterte sie aus der Nähe. »Im Grunde siehst du … mir ein wenig ähnlich.«
Michele grinste. Diese Feststellung gab ihr einen kleinen Kick. Als sie sich im Zimmer umsah, brachte sie eine abgegriffene Ausgabe von Shakespeares Der Sturm auf eine Idee.
»Hast du Der Sturm gelesen?«
»Gelesen?«, spottete Lily. »Verschlungen habe ich es, es ist mein Lieblingsstück von Shakespeare.«
»Nun, dann solltest du verstehen können, was ich bin … ein Geist wie Ariel aus dem Stück.«
»Ah ja?« Als Lily sie von Kopf bis Fuß begutachtete, war ihr anzusehen, dass sie die Idee, einen eigenen Geist zu haben, gar nicht übel fand. »Nun, es würde wirklich zu mir passen, dass etwas Außerirdisches in mein Leben tritt«, seufzte sie theatralisch, nicht ohne eine Spur Stolz in der Stimme.
Michele versuchte, sich das Lachen zu verkneifen. »Na ja, es könnte schlimmer sein.«
»Ehrlich gesagt war ich tatsächlich auf der Suche nach einer Lösung für eine schrecklich missliche Lage«, fuhr Lily fort. »Bist du vielleicht
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