Timeless: Roman (German Edition)
erklärte, fragte sie sich, welche Suppe sie sich da wohl gerade einbrockte.
»Da hast du ja eine tolle Geschichte ausgeheckt.« Lilys Augen leuchteten. »Raffinierter Plan! In meiner Schublade für Unterwäsche habe ich Geld für Notfälle versteckt, und es dürfte für das Hotel und das Taxi reichen.«
»Leg eine extra Schicht Make-up auf und zieh etwas an, das dich älter macht, damit man dich für mindestens achtzehn hält, wenn du ein Zimmer reservieren willst«, empfahl ihr Michele.
»Mach dir deswegen keine Sorgen. Wenn sich jemand mit Verkleidungen auskennt, dann Lily«, sagte sie zuversichtlich.
»Und noch etwas«, fügte Michele hinzu. »Niemand außer dir kann mich sehen.«
Lily schlüpfte in einen Kimono, und Michele beobachtete neugierig, wie sie sich zurechtmachte und dabei die ganze Zeit summte und seltsame Stimmübungen machte.
»Wo sind eigentlich die anderen? Clara, Frances und so weiter?«, wollte Michele wissen, und fragte sich, warum Lily jetzt in dem Herrenhaus wohnte.
»Sie leben natürlich bei ihren Ehemännern. Cousin James ist nach seiner Heirat mit Lady Pamela nach England gezogen. Als Onkel George starb, erbte mein Vater das Haus.«
Lily saß an ihrer Frisierkommode und begann, energisch an ihren ohnehin dünnen Augenbrauen zu zupfen, bis Michele sie bat, damit aufzuhören.
»Da bleibt ja nichts mehr übrig.«
Lily zuckte mit den schmalen Augenbrauen. »Weißt du, mein Schatz, das ist zurzeit modern.« Sie schüttelte amüsiert den Kopf.
Dann umrahmte sie die Augen mit einem schwarzen Kajal und tuschte ihre Wimpern mit Mascara aus einer Tube, auf der zu Micheles Erstaunen Maybelline stand. Schließlich puderte sie etwas Rouge auf die Wangen und malte mit einem roten Lippenstift ihre Lippen zu einem Schmollmund aus.
»Wie sehe ich aus?«, fragte Lily.
Für Micheles Geschmack war sie zu aufgedonnert, vor allem mit dem leuchtenden Wangenrouge, aber zumindest ließen die stark geschminkten Augen und knallroten Lippen sie deutlich älter erscheinen. Sie nickte Lily zu.
Dann nahm Lily eine große Rolle Klebeband von der Frisierkommode. Völlig perplex beobachtete Michele, wie sie sich damit ihren Oberkörper umwickelte, sodass ihre Brüste flacher wirkten.
»Hm, ich dachte du versuchst älter zu wirken«, protestierte Michele. »Erreichst du damit nicht das Gegenteil?«
»Aber, Süße, auf welchem Planeten lebst du denn?«, fragte Lily von oben herab. »Weißt du denn nicht, dass große Brüste nicht in Mode sind? Je flacher, desto besser.«
Michele musste lachen. Ihre Generation wäre über diese Ansicht entsetzt. Doch sie selbst wäre mit ihren nicht gerade als prall zu bezeichnenden Brüsten in den 1920ern voll im Trend gewesen.
Lily eilte in ihr Ankleidezimmer. Als sie zurückkehrte, trug sie ein aufregendes paillettenbesetztes Kleid. Michele stockte der Atem. Mom hätte dieses Outfit geliebt , dachte sie. Es war ärmellos und silbern, knielang und mit gerafftem Rock. Lilys gewellte Bobfrisur steckte unter einem Glockenhut.
»Hinreißend«, erklärte Michele.
»Danke dir.« Lily schlang sich eine schwarze Federboa um die Schultern.
Jetzt trägst du aber wirklich zu dick auf , dachte Michele, doch Lily sah so zufrieden mit sich aus, dass Michele ihr nicht den Vorschlag machen mochte, die Boa wegzulassen.
»Gut, dann werde ich jetzt nach der Hauswirtschafterin läuten und ihr den Plan erklären, damit sie meine Eltern informieren kann. Wenn die mich so aufgetakelt sehen, ist der Spaß vorbei.«
Natürlich gab es noch keine Sprechanlage, sodass Lily die Hauswirtschafterin von einem altmodischen Telefon mit Gabel anrief. Nachdem sie ihr erklärt hatte, dass sie über Nacht bei Sally wäre, packte Lily schnell eine kleine Tasche und schlüpfte in ein Paar spitz zulaufende Schuhe mit niedrigen Absätzen und einen langen Mantel mit wildem Muster.
»Dann mal los!«
Michele und Lily eilten zum Aufzug, verließen das Haus durch den Hinterhof und gingen die zwei Häuserblocks zum Plaza Hotel zu Fuß. Michel betrat das schöne Beaux-Arts-Gebäude hinter Lily. Als sie in dem von der Fifth Avenue aus zu betretenden Foyer mit der hohen Decke und dem Mosaikfußboden stand, bewunderte sie begeistert das Plaza im vollen Glanz der 1920er-Jahre. Der Prunk und die Vornehmheit des Hotels bildeten die perfekte Kulisse für die hier ein und aus gehenden Menschen, die dem Roman Der große Gatsby entstiegen zu sein schienen.
Unter dem Decknamen Contessa Crawford buchte Lily an der Rezeption
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