Timeless: Roman (German Edition)
alles über Lilys Doppelleben herausgefunden. Gehetzt dreinblickende Lakaien begleiteten sie, schirmten sie vor den Clubbesuchern ab, die von allen Seiten herandrängten.
Michele rannte durch den Club und suchte verzweifelt den Eingang zum Backstagebereich. Dort entdeckte sie Lily, die hinter den Kulissen wartete.
»Schlechte Nachrichten«, verkündete Michele ohne Umschweife. »Deine Eltern sind hier. Sieht ganz danach aus, als wüssten sie alles.«
Alles Blut wich aus Lilys Gesicht. »O Gott. Wir müssen hier raus. Bitte, hilf mir aus dem Kleid.« Ungeduldig zerrte sie an ihrer Robe.
Michele half ihr mit den Knöpfen, doch dann hielt sie plötzlich inne. »Nein«, sagte sie wild entschlossen. »Du musst weitermachen.«
»Wie bitte? Hast du den Verstand verloren?«, fragte Lily.
»Dir bleibt keine andere Wahl: Heute Abend musst du den Auftritt deines Lebens hinlegen. Sie wissen Bescheid, ob du auftrittst oder nicht, aber jetzt können deine Eltern mit eigenen Augen sehen, wie gut du bist«, beharrte Michele. »Und wer weiß … vielleicht sind sie so beeindruckt, dass sie dich weitermachen lassen.«
»Kannst du dir das wirklich vorstellen?«, fragte Lily skeptisch.
»Das ist deine einzige Chance«, bemerkte Michele aufmunternd. »Zurück kannst du jetzt nicht mehr.«
Lily wirkte hypernervös. »Ich weiß nicht, ob ich das kann.«
Michele griff nach ihrer Hand. »Natürlich kannst du! Mach dir keine Sorgen! Los, ich hab ein gutes Gefühl, dass es klappt.«
Lily holte tief Luft. »Gut … dann wünsch mir Glück.«
16
V on den Seitenkulissen aus beobachtete Michele, wie Lily auf die Bühne trat und ihr erstes Lied anstimmte, eine Version von Fanny Brices »My Man«.
»Es kostet mich viel, doch es gibt etwas, das ich habe, meinen Mann …«
Das Publikum war sofort von dieser herzergreifenden Liebesgeschichte in Bann gezogen, und Lilys volle Bluesstimme ließ einen völlig vergessen, dass sie eigentlich noch zu jung war, um das, worüber sie sang, erlebt zu haben. Doch ein Paar war keineswegs angetan – Lilys Eltern. Im Gegenteil, Mr. und Mrs. Windsor saßen stocksteif an einem der vorderen Tische, die Gesichter wutverzerrt. Lily schluckte schwer, ließ sich aber nicht beirren und gab ihr Bestes.
» Er hat zwei oder drei Mädchen, die er genauso mag wie mich, doch ich liebe ihn …«
Als Lily ihren Auftritt beendet hatte, erntete sie stehende Ovationen. Doch noch während das Publikum jubelte und Lily sich verbeugte, bahnte sich Lilys Vater einen Weg durch die Menge, seine Frau im Schlepptau, bis zur Bühne.
»Daddy«, stieß Lily mit aschfahlem Gesicht hervor.
Wortlos trat Mr. Windsor noch einen Schritt nach vorn und zerrte seine Tochter von der Bühne. Der Applaus verstummte, ein Raunen ging durchs Publikum.
»Hey!«, brüllte Gene, der Clubbesitzer. Er rannte zu Lily und Mr. Windsor, Thomas ihm unmittelbar auf den Fersen. »Wie behandeln Sie denn meine Sängerin?«
»Oh, Mist«, stöhnte Michele und rannte zu Lily. Das war kaum die Reaktion, die sie erwartet hatte, als sie Lily gedrängt hatte, auf die Bühne zu gehen.
Als Michele in der Mitte des Clubs angelangt war, hatte sich das Publikum in einem Kreis um Lily, ihre Eltern, Gene und Thomas geschart und beobachtete, hin- und hergerissen zwischen Entsetzen und Heiterkeit, wie »Contessa Crawford« als die sechzehnjährige Erbin Lily Windsor entlarvt wurde.
»Sechzehn?«, stöhnte Thomas und wurde puterrot. »Du hast gesagt, du bist zweiundzwanzig.«
Genes Gesicht war hochrot vor Zorn. »Willst du mich fertigmachen? Du weißt genau, dass ich meine Lizenz verliere, wenn rauskommt, dass ich minderjährige Künstler engagiere.«
Als Lily flehend von einem zornigen Gesicht zum nächsten blickte, sah Michele eine völlig veränderte Person: nicht mehr die selbstbewusste, herausfordernd flapsige junge Frau. Jetzt stand da nur noch ein verängstigter, niedergeschlagener Teenager.
»Ich … ich habe wohl nicht nachgedacht«, antwortete Lily mit zarter Stimme. »Ich habe mir so sehr gewünscht, Sängerin zu werden, es zu schaffen und gehört zu werden …«
»Das ist jetzt vorbei«, erklärte ihr Vater entschlossen. Dann wandte er sich Gene zu. »Ich kann mich nicht genug für das verabscheuungswürdige Verhalten meiner Tochter entschuldigen. Mein Buchhalter wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen, um Ihnen eine finanzielle Entschädigung für alle durch sie verursachten Unan nehmlichkeiten anzubieten und den Vertrag aufzulösen.«
Bei der
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