Timeless - Schatten der Vergangenheit: Roman (German Edition)
Bildqualität konnte sie seinen Gesichtsausdruck klar erkennen. Er blickte in die Ferne, die Augen unverwandt auf einen Punkt gerichtet. Seine ganze Aufmerksamkeit galt jemandem, der sich hinter der Kamera befand, und wenn Michele das Foto betrachtete, wusste sie, dass sie es war, die er ansah.
Unter dem Zeitungsausschnitt lagen Philips handgeschriebene Noten zu einem der Lieder, die er und Michele 1910 gemeinsam geschrieben hatten. »Bring die Farben zurück.« Sie hatte den Text geschrieben und er die Musik komponiert, und über diese Komposition, mit der sie einander mehr sagten, als es Worte allein vermocht hätten, hatten sie sich ineinander verliebt.
Ganz unten in der Schachtel lagen Erinnerungsstücke an Philips späteres Leben unter seinem Pseudonym Phoenix Warren, dem berühmten Komponisten und Pianisten aus der Mitte des 20. Jahrhunderts. Ein Foto von 1940 aus einer alten Ausgabe des Life- Magazins zeigte ihn in den mittleren Jahren mit lässigem Gesichtsausdruck. Er hielt eine Goldene Schallplatte in der Hand, die er für seine Symphonie Michele erhalten hatte – das Lied, das Marion Windsor auf den perfekten Namen für ihre Tochter gebracht hatte. Noch immer rieselte Michele eine Gänsehaut über den Nacken, wenn sie daran dachte.
Das letzte Stück in der Schachtel war seine Todesanzeige vom 12. Dezember 1992. Er hatte ein langes, erfülltes Leben gehabt, genau wie er es Michele bei ihrer letzten Begegnung versprochen hatte. Aber er hatte nie geheiratet, und Michele wurde das Gefühl nicht los, dass er den Rest seiner Tage nach ihr gesucht hatte. Hatte ihn diese Suche schließlich hierhergeführt? Oder war dieser neue Philip Walker nur sein Nachfahre?
Als Michele den Deckel wieder auf die Schachtel legte, dachte sie, dass es vielleicht jemanden gab, der die Antwort auf das alles kannte: ihr Vater. Nur seinetwegen war sie überhaupt in der Lage, durch die Zeit zu reisen. Aber Irving Henry war in der Vergangenheit verschollen und wusste nichts von Micheles Existenz.
Ich kann in die Vergangenheit reisen, rief sich Michele in Erinnerung. Ich kann ihn suchen.
Der Gedanke begeisterte sie und jagte ihr zugleich Angst ein. Ihr Vater war die wichtigste Person aus ihrer Vergangenheit. Auf diese Begegnung musste sie gut vorbereitet sein.
***
Als die Uhr sechs schlug und damit die Abendessenszeit im Hause Windsor ankündigte, war Michele noch immer in ihre Internetrecherche vertieft: Sie suchte nach allem, was sie über den Philip Walker der Gegenwart finden konnte. Während die meisten Menschen heutzutage ihr Leben praktisch vor der ganzen Welt online ausbreiteten, war Philip im Internet fast so schwer greifbar wie im echten Leben. Sie fand ihn auf keiner Social-Network-Seite, und da er einen der verbreitetsten Nachnamen des Landes trug, brauchte sie Stunden, um all die Suchergebnisse durchzugehen, die sie zu anderen Philips führten. Als sie gerade mit einem entmutigten Seufzen von ihrem Schreibtisch aufstand, ging auf ihrem Handy piepsend eine SMS ein. Caissies Name erschien auf dem Display.
In der Nachricht stand: Könnte er Philips Urgroßneffe oder so was sein? Das würde die Ähnlichkeit erklären .
Aber Philips Familie lebte in dem Glauben, er sei in den 1920ern verstorben. Er wäre nicht einfach so wieder aufgetaucht, um einem von ihnen den Ring zu geben, dachte Mi chele. Es gab keine Erklärung – nur die unbestreitbare Tatsache, dass sie heute in genau dieselben Augen geblickt hatte wie damals im Jahr 1910.
Langsam und in Gedanken versunken begab sie sich zum Speisezimmer, doch als sie eintrat und ihre Großeltern sah, wurde sie jäh in die Gegenwart zurückgerissen. Offensichtlich war irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung.
Nie zuvor hatte Michele gesehen, dass sich ihre Großeltern gehen ließen. Ihre kerzengerade, stolze Haltung zeugte von ihrer königlichen Erziehung und schien ihre Persönlichkeit anzukündigen, wann immer sie ein Zimmer betraten. Aber als Michele an diesem Abend in der Tür des Speisezimmers mit den Marmorsäulen stand, fand sie Walter und Dorothy müde und gebeugt in ihren Stühlen vor. Dorothy zitterte, und Walter raunte ihr etwas ins Ohr.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie, obwohl sie fürchtete, die Antwort auf diese Frage bereits zu kennen. »Was hat der Arzt gesagt?«
Die beiden sahen auf und versuchten ihre Gesichtszüge zu glätten, um eine gefasste Miene vorzutäuschen.
»Gesundheitlich geht es mir gut«, sagte Dorothy mit zittriger Stimme. »Es waren
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