Timeless - Schatten der Vergangenheit: Roman (German Edition)
Stock des Osborne kamen. Der Musiker spielte mit einer Leidenschaft und Kunstfertigkeit, wie Michele sie bisher nur bei einem einzigen Menschen gehört hatte. Das Stück war ihr gut bekannt: die Serenade.
Am ganzen Leib zitternd, starrte Michele zu dem Fenster hinauf. Ist er es wirklich? Und dann erkannte sie hinter der Scheibe die Konturen seines Gesichts, er hatte die Augen beim Spielen konzentriert geschlossen, dunkle Haarsträhnen fielen ihm in die Stirn.
» PHILIP !«, schrie Michele aus Leibeskräften. Eigentlich hätte er sie nicht hören dürfen, zumal ihre Stimme beinahe im dröhnenden Hupen eines Lastwagens unterging.
Aber er wandte den Kopf in ihre Richtung, und sein Gesicht erstarrte, als könne er nicht glauben, was er gehört hatte. Dann sah er sie auf der anderen Straßenseite auf dem Gehweg auf und ab springen, und ein überraschtes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
Ehe sie sichs versah, rannte sie auf ihn zu und kletterte die Feuertreppe zu seinem Fenster hinauf. Genau wie Tony und Maria, dachte sie mit einem freudigen Lachen.
Philip riss das Fenster auf und stieg zu ihr nach draußen. Als er sie ansah, standen Tränen in seinen Augen. Einen Moment lang starrte er sie nur an, wobei er kräftig blinzelte, als wollte er sich vergewissern, dass es Wirklichkeit war: dass Michele tatsächlich zurückgekehrt war. Bei seinem Anblick spürte sie den gleichen nostalgischen Schmerz im Magen, den sie von ihrer einzigen anderen Begegnung mit ihm als erwachsenem Mann kannte – im Jahr 1944, bei ihrem allerletzten Zusammentreffen. Aber davon konnte er jetzt noch nichts wissen. Für ihn lag es in der Zukunft.
»Michele«, flüsterte er.
Plötzlich lag sie in seinen Armen, er hielt sie fest umschlungen. Sie schloss die Augen und atmete seinen vertrauten Duft ein, der für ihre strapazierten Nerven wie Balsam war. Doch Philip schob sie sanft von sich und blickte sie untröstlich an.
»Ich wünschte, du wärst früher zurückgekommen«, sagte er leise. »Ich bin erwachsen geworden.«
»Ich weiß.« Behutsam legte Michele die Hand an seine Wange. Sein Gesicht war noch beinahe dasselbe wie in seiner Teenagerzeit, nur waren seine Augen jetzt von Falten umgeben, und in seiner Miene lag mehr Lebenserfahrung. Obwohl er älter geworden war, sah er noch genauso gut aus wie früher und erinnerte in seinem Drape Suit an ein klassisches Leinwand-Idol. »Wenn ich es unter Kontrolle hätte, hätte ich das Jahr 1910 nie verlassen, sondern wäre die ganze Zeit bei dir geblieben.«
Mit bebenden Lippen lächelte Philip sie an. »Ich habe mein Versprechen gehalten. Dank dir habe ich mit meiner Musik Erfolg. Dass du in deiner Welt später noch etwas von mir vorfindest, ist mein Ansporn.«
Michele blinzelte die Tränen fort. »Ich bin so stolz auf dich – auf das, was aus dir geworden ist. Und du … du hast auch dein anderes Versprechen gehalten, nicht wahr? Du hast einen Weg zu mir gefunden. Aber du scheinst dich nicht zu erinnern.«
Philip richtete sich auf. »Was meinst du?«
Einen Moment lang fragte sich Michele, ob sie besser nichts gesagt hätte und vielleicht sogar die Gegenwart veränderte, indem sie ihm in der Vergangenheit davon erzählte – doch es war zu spät. Sie musste Gewissheit darüber bekommen, ob er und der neue Philip dieselbe Person waren, und herausfinden, warum er sich nicht mehr an sie erinnerte.
»Gestern bist du in meiner Zeit aufgetaucht – in meiner Schule«, teilte Michele ihm mit und sah, wie ihm der Kiefer herunterklappte. »Du hast genauso ausgesehen wie bei unserer ersten Begegnung, als du achtzehn warst. Sogar den gleichen Siegelring hast du getragen. Aber aus irgendeinem Grund konntest du dich nicht an mich erinnern. Und auch heute hast du Zeit mit einem anderen Mädchen verbracht und mich angesehen, als wäre ich nur irgendeine Mitschülerin, niemand Besonderes.« Die Tränen, die Michele bisher zurückgehalten hatte, liefen ihr jetzt über die Wangen. »Wie kann das sein?«
Philip fasste sich an die Brust und starrte Michele erschrocken an. »Ich … ich verstehe das nicht. Du sagst, mein jüngeres Ich sei in die Zukunft gereist? Wie ist das möglich, ohne dass ich etwas davon weiß?«
»Es klingt alles so verrückt, ich weiß. Aber er hat dein Gesicht, deine Stimme und deinen Ring; er lebt sogar in diesem Haus! Er ist in jeder Hinsicht genau wie du … bis auf die Art, wie er sich mir gegenüber verhält.« Michele wischte sich die Tränen ab.
Einen Moment lang
Weitere Kostenlose Bücher