Timeless - Schatten der Vergangenheit: Roman (German Edition)
blieb.
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Während Fritz sie nach der Schule durch Midtown fuhr, wählte Michele auf ihrem Handy die Nummer von Windsor Mansion. Der SUV fuhr gerade an den hektischen Lichtern und dem geschäftigen Treiben am Broadway vorbei, als Annaleigh abnahm. »Hey Annaleigh, ich wollte nur Bescheid geben, dass ich unterwegs bin, um … äh … bei einer Freundin zu lernen. Fritz fährt mich. Zum Essen werde ich zu Hause sein, aber ich dachte, meine Großeltern würden es vielleicht wissen wollen.« Stumm betete Michele, dass Wal ter und Dorothy keine Panikattacke bekommen würden, weil sie nach der Schule unterwegs war, während Rebecca noch frei herumlief – aber andererseits wusste Michele, dass sie zu Hause keineswegs sicherer war. Im Gegenteil, sie musste in den nächsten sechs Tagen so viel wie möglich erreichen, bevor Rebecca noch viel gefährlicher wurde.
Fritz setzte sie an der Ecke Fifty-Seventh Street und Seventh Avenue gegenüber der Carnegie Hall ab, aber Michele hatte nur Augen für ein anderes Gebäude, ein Stück weiter die Straße hinunter: das Osborne. Die braune Sandsteinfassade des Apartmenthauses schien ihr förmlich zuzuzwinkern, und ein plötzlicher Windstoß klang in ihren Ohren wie ein Flüstern, das sie vorwärtsdrängte. Sie hatte absolut keinen Plan und wusste außerdem, dass es sehr nach Stalking aussehen konnte, wenn sie vor Philips Wohnung aufkreuzte. Trotzdem musste sie mit ihm reden, und zwar ohne die störenden Ablenkungen in der Schule. Sie musste herausfinden, warum er sich nicht an sie erinnern konnte, wer er in Wirklichkeit war – und warum Rebecca womöglich auch ihn verfolgte.
Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, während sie sich dem Gebäude näherte und das Schild über dem Eingang be merkte: Erbaut 1885. Ein offizielles Wahrzeichen der Stadt New York. Im Erdgeschoss des Osborne befanden sich ringsum Ladengeschäfte, unterbrochen nur durch den Haupteingang in der Mitte der Frontseite. Michele spähte durch das Fenster in die Lobby und hielt den Atem an.
Es sah aus, als hätte jemand das Innenleben eines Renaissance-Palasts in dieses Apartmenthaus in Manhattan versetzt. Die Lobby des Osborne war ein meisterhaftes Kunstwerk. Wände und Böden waren vollständig mit elegantem Marmor und Mosaiken verkleidet. Auch die geschwungenen Kassettendecken waren reich verziert, und der Eingang war von gemalten Medaillons flankiert, die Motive aus Musik und Vorträgen zeigten. Aus alten Wandleuchtern wurde der Blickfang der Lobby angestrahlt: eine antike römische Uhr aus Gold und Bronze, die stolz auf einer mächtigen Säule am rückwärtigen Ende des Raums prangte. Michele starrte die Uhr an, und ohne darüber nachzudenken, griff sie langsam nach ihrem Schlüssel.
Die leichte Luftbewegung schwoll zu einem starken Wind an, der sie umwirbelte, und Michele rang nach Luft, als ihre Füße vom Boden abhoben. Sie drehte sich so schnell um sich selbst, dass sie kaum noch etwas sehen konnte; mit Schrecken begriff sie, dass es schon wieder passierte. Als sie strauchelnd in der Abenddämmerung landete, befand sie sich wieder vor dem Osborne – aber ansonsten hatte sich alles verändert.
Als Erstes fielen ihr die Geräusche auf. Die Stadt klang vollkommen anders. Sie hörte das Tuckern einer Eisenbahn, das Rumpeln altmodischer Autos und den melodi schen Tonfall von Stimmen, die sich so kultiviert ausdrück ten, als spielten sie in einem Theaterstück mit. Langsam drehte sich Michele um, und ihre Augen wurden immer größer.
Pompöse Wagen rollten durch die Straßen, und der Unterschied zu den Modellen aus dem 21. Jahrhundert, die Michele gewöhnt war, hätte nicht größer sein können – von einem türkisen Cadillac mit weißem Dach bis hin zu einem braunen, offenen Buick, der an eine Postkutsche erinnerte. Die Männer am Steuer trugen Anzüge mit breiten Revers, gemusterte Krawatten und Hüte mit Krempen, während die Frauen neben ihnen Puffärmelblusen und kleine, asymmetrische Hüte trugen. Ihre Haare umrahmten das Gesicht in kurzen Wellen. Ein altmodischer gelber Bus mit einem Filmplakat darauf brauste an ihr vorbei. Cecil B. DeMilles Cleopatra mit Claudette Colbert! Lassen Sie sich dieses cineastische Meisterwerk von 1934 nicht entgehen! Über ihrem Kopf ratterte und schnaufte die Eisenbahn auf den Hochbahnschienen über der Seventh Avenue.
1934, dachte Michele aufgeregt. Ich bin im Jahr 1934!
Ein neues Geräusch überlagerte die anderen: Klavierklänge, die aus einem Fenster im ersten
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