Timeless - Schatten der Vergangenheit: Roman (German Edition)
Gegenwart verlässt und dem Ich in die Ver gangenheit oder Zukunft folgt. Vorher ist der Zeitreisende unsichtbar und erscheint nur jenen, die über die Gabe des Sehens verfügen. Allerdings ist es in unserer Gesellschaft verboten, länger als sieben Tage in einer anderen Zeit zu bleiben. Siehe dazu die vier Kardinalregeln.«
Mit wild klopfendem Herzen blätterte Michele hastig im Buch herum, bis sie eine Definition für die Gabe des Sehens fand: »Die Fähigkeit normaler Menschen, Geister und Zeitreisende zu sehen. Diese Gabe wird normalerweise vererbt. Die Gabe des Sehens gedeiht in jungen Jahren, wenn die Fantasie am lebhaftesten ist, und kann während des Alterns gelegentlich nachlassen und verschwinden.«
Michele schnappte nach Luft. Jetzt hatte sie eine Antwort auf die Frage, über die sie wochenlang nachgegrübelt hatte: warum sie in der Vergangenheit für jeden außer den Windsor-Mädchen und Philip unsichtbar gewesen war. Die Gabe des Sehens lag bei den Windsors definitiv in der Familie, und Philip besaß sie ebenfalls.
Die Überschrift der letzten Seite fiel Michele ins Auge:
Die vier Kardinalregeln des Zeitreisens
Hüter der Zeit dürfen nicht in Entscheidungen über Leben und Tod eingreifen. Die Missachtung dieser Warnung hat entsetzliche Konsequenzen. Mit deiner Unterschrift auf dem Mitgliedschaftsantrag erkennst du die folgenden vier Kardinalregeln an. Du akzeptierst, dass die Nichteinhaltung dieser Regeln deinen sofortigen Ausschluss aus der Zeitgesellschaft und die Beschlagnahmung deines Schlüssels zur Folge haben.
1.Du darfst keinen Mord begehen.
2.Du darfst niemals versuchen, Verstorbene von den Toten zurückzuholen. Darunter fallen auch Reisen in die Ver gangenheit mit dem Zweck, einen Todesfall zu verhindern.
3.Während du dich in der Vergangenheit oder Zukunft befindest, darfst du keine Kinder zeugen oder empfangen. Auch darfst du keine Kinder mit jemandem zeugen oder empfangen, der aus einer anderen Zeit kommt. Die Folge wären zweizeitige Kinder, die nie wahrhaft in eine Gegen wart gehören können und für immer zwischen der Zeit ihres Vaters und der ihrer Mutter gespalten sein werden.
4.Um derart katastrophale Auswirkungen zu vermeiden und Verfälschungen des natürlichen Zeitstrangs zu verhindern, darfst du dich in keiner Zeit außer deiner wahren Gegenwart länger als sieben Tage in Folge aufhalten. In keiner anderen Zeit als deiner eigenen darfst du volle Sichtbarkeit erlangen.
Als sie die dritte und vierte Regel las, klopfte Michele das Herz bis zum Hals – ihr Vater hatte beide gebrochen. Die Worte wurden unscharf und verschwammen vor ihren Augen. Eine Welle kalter Angst erfasste sie tief in ihrem Inneren. Ich hätte nicht geboren werden dürfen, dachte sie panisch. Was hatte Millicent August damit gemeint, dass zweizeitige Kinder »für immer zwischen der Zeit ihres Vaters und der ihrer Mutter gespalten sein werden«? Was war das für eine katastrophale Konsequenz, die ihr drohte?
Mit einem Mal wurde es Michele zu eng in dem Tunnel. Sie musste hier raus – sie brauchte Luft.
Hastig verstaute sie die Tagebücher ihres Vaters und das Handbuch der Zeitgesellschaft wieder in der Schachtel und stolperte aus dem Geheimgang.
Durch die Haupteingangstüren des Windsor Mansion schlüpfte sie hinaus in die Nacht und rang in flachen Atemzügen nach Luft, während sie sich in einer Welt umblickte, die sie nicht mehr verstand. Sie verließ das Grundstück durch das Tor, fing an zu rennen und versuchte dabei nicht an ihre Großeltern zu denken, die vermutlich in Panik ausbrechen würden, wenn sie Micheles Fehlen zu dieser späten Stunde bemerkten. Jedes bisschen Sicherheit, das sie in ihrem Leben empfunden hatte, schien sich ins Gegenteil verkehrt zu haben – sie musste einfach vor diesem unerwünschten Wissen davonlaufen, das ihre Gedanken vernebelte.
Michele rannte so schnell, dass sich die Wahrzeichen und berühmten Motive Manhattans neben ihr zu bewegen und zu verändern schienen. Als sie am glitzernden Plaza Hotel vorbeisauste, verschwamm die vor dem Eingang des Hotels geparkte Limousine vor ihren Augen, bis sie kein Auto mehr war, sondern ein Pferdewagen. Heftig blinzelnd rannte sie weiter die Fifth Avenue hinunter und wäre beinahe lang hingeschlagen, als sie feststellte, dass all die modernen Gebäude und Geschäfte nicht mehr da waren. Bergdorf Godman und Henri Bendel, Abercrombie & Fitch, Gap – alle verschwunden. Stattdessen reihten sich in diesem Geschäftsviertel nun
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