Timeless - Schatten der Vergangenheit: Roman (German Edition)
kümmern, dass alle Augen im Speisesaal auf sie gerichtet waren, stellte Philip die beiden Tabletts auf den Tisch und setzte sich auf den Stuhl neben Michele. Sie lächelte ihn an. Während die drei ungezwungen plauderten, wollte sich Michele am liebsten kneifen, um sich zu beweisen, dass er wirklich da war. Und dass dieses Glück echt war.
***
Nach der Schule stieg Michele vor dem Dorilton-Apartmenthaus in der West Seventy-First Street aus dem SUV der Windsors. Einen Moment lang stand sie nur da und betrachtete das aus Kalk- und Ziegelstein erbaute Beaux- Art-Schloss. Mit seinen gewaltigen Steinfiguren, den bogen för migen Balkonen und dem hoch aufragenden Mansardendach erinnerte das Dorilton Michele an ein Walt-Disney-Märchen – nur hatte es nichts Kindliches oder Unschuldiges an sich. Das Haus wirkte, als habe es schon immer auf New Yorker Boden gestanden und als steckten die Geheimnisse vieler Jahrzehnte in seinen Wänden.
Als Lisa ihr mit dem Summer öffnete, schwangen die Eisentore auf. Michele ging zum Haupteingang hinauf und betrat das elegante Foyer. Nachdem sie mit dem Aufzug in den zehnten Stock gefahren war, folgte sie einem langen Flur, bis sie zur Wohnung von Lisa Jade gelangte.
»Ich freue mich so, dich wiederzusehen.« Lisa umarmte sie herzlich, und wieder verspürte Michele in ihrer Nähe sofort diese Leichtigkeit des Seins. Sie folgte Lisa durch deren geräumige, verspielt eingerichtete Wohnung zu einem Meditationsraum im New-Age-Stil. An den Wänden hingen bunte Tücher, und in der Mitte stand eine weiche, blaue Liege, umringt von gemütlichen Kissen auf dem Boden. Im Fenster waren Kristalle aufgehängt, an denen sich das Licht brach und Regenbögen ins Zimmer malte, während brennendes Räucherwerk und ätherische Öle den Raum mit einem beruhigenden Duft erfüllten.
»Leg dich schon mal auf die Liege«, bat Lisa Michele. »Wir werden heute meine Methode anwenden, um durch tiefe Atmung und Entspannung das Unterbewusste zu erwecken. Schließ die Augen und konzentrier dich auf deinen Atem. Atme einfach ein … und aus … und ein … und aus …«
Michele folgte dem Atemmuster, während Lisa sie mit ihrer wohlklingenden Stimme in Hypnose versetzte. Micheles Augen waren geschlossen, als würde sie schlafen, aber unter ihren Lidern bewegten sich die Pupillen verstohlen hin und her.
»Jetzt stell dir vor, du stehst in einem großen, runden Zimmer. Du siehst dich um und stellst fest, dass du vor einem Spiegel stehst. Vor deinen Augen klärt sich das Bild in diesem Spiegel«, sagte Lisa. »Du legst die Hand an deine Wange, und das Spiegelbild folgt deiner Bewegung. Du erkennst, dass du dich in diesem Spiegelbild im Jetzt siehst, in diesem Leben – dass du selbst in Wirklichkeit aber in einer weit entfernten Vergangenheit bist.«
Selbst in der Hypnose erkannte Michele, dass sie im Spiegel haargenau so aussah wie in ihrem Traum der letzten Nacht – die Michele, die im Jahr 1904 gefangen war. Ihr Haar war à la Pompadour frisiert, und obenauf saß ein aufwendiger Florentinerhut. Sie trug eine gestärkte weiße Bluse und dazu einen bodenlangen schieferblauen Rock. Als Michele in den Spiegel blickte, wusste sie, dass es so weit war. Sie musste ihren Vater finden.
In einer Art Beschwörung konzentrierte Michele all ihre Gedanken auf die gewünschte Zeit und spürte, wie die Luft sie umwirbelte. Ihr Magen machte einen Satz, als sie vom Boden abhob. Noch bevor sie die Augen aufschlug, wusste Michele, dass alles anders sein würde.
Lisa und der Meditationsraum waren verschwunden. Genau genommen war alles verschwunden, und Michele stand mitten in einer leeren Wohnung, umgeben von nichts als Kirschholzböden und nackten Wänden. Es war vollkommen still, doch dann hörte Michele das Sausen von Schlittschuhen und eilte zum Fenster – ihr stockte der Atem.
New York lag unter einer Schneedecke. Die sanften Hügel des Central Park funkelten weiß, während Schneeflocken anstelle von Blättern in den Bäumen glitzerten. Vor dem Dorilton lag ein kleiner zugefrorener See, auf dem zwei lachende Kinder und ein Pärchen Schlittschuh liefen.
Ich habe es geschafft. Ich bin in die Vergangenheit gereist – ohne den Schlüssel!
Hieß das, dass sie, Michele Windsor, zu den Hütern der Zeit gehörte, die über diese seltene Gabe verfügten? Oder war es ein Nebeneffekt der Hypnose?
Michele verließ die leere Wohnung, stieg in den Aufzug und betrachtete kurz darauf mit großen Augen das Foyer und den Haupteingang
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