Timeless - Schatten der Vergangenheit: Roman (German Edition)
rennen oder hinter ihren Eltern hertrödeln. Waren Kinder im viktorianischen Zeitalter für die Reise stets festlich gekleidet und hatten ihren Eltern mit äußerstem Respekt zu folgen, sieht es nun so aus, als hätten diese ungestümen Jugendlichen das Kommando über die Eltern übernommen, und ihre Kleidung scheint eher zum Spielen im Freien geeignet, als dazu, eine Reise mit dem Zug zu unternehmen. Jungen wie Mädchen tragen Jeans oder Latzhosen wie die eines Bauern, dazu bunte Pullover und Sneakers.
Unter kräftigem Blinzeln betrachte ich das Bild vor meinen Augen. Von den Menschen völlig in Erstaunen versetzt, bemerke ich erst nach einigen Minuten, dass ich ein ganz neues Grand Central Terminal vor mir habe. Wo früher der L-förmige Bahnhof war, steht nun ein atemberaubendes Gebäude mit hohen Fenstern und einer kuppelförmigen, sternenbesetzten Decke. Marmortreppen führen zu Restaurants auf den innenliegenden Balkonen.
Vorsichtig mische ich mich unter die vorbeieilenden Menschen und muss lächeln, als sich die Menge um mich drängt, ohne dass irgendjemand meine Anwesenheit bemerkt – und doch bin ich wirklich unter ihnen! Es ist unglaublich! Plötzlich laufe ich schneller und eile auf die nächste Tür zu. Ich muss New York sehen!
Als ich durch die Tür auf die Forty-Second Street trete, wollen mich die Geräusche, Gerüche und Bilder einer völlig neuen Stadt ganz und gar verschlingen. Beim Anblick dieses fremdartigen New Yorks bleibt mir vor Staunen der Mund offen stehen. Es scheint in den letzten hundert Jah ren in die Höhe geschossen zu sein, turmhohe Gebäude ragen über den Gehwegen auf und erstrecken sich bis in den Himmel. Verschwunden sind all die Pferdewagen, Lan dauer und Einspänner, die über Kopfsteinpflasterstraßen trotten, an ihrer Stelle sausen gelbe Taxis und Automobile ohne Pferde über Asphaltstraßen. Es gibt keine Eisenbahn mehr, die auf einer Brücke über mich hinwegtuckert, dafür dringt von oben ein fremdartiges, dröhnendes Geräusch an meine Ohren. Ich erschrecke und schlage schützend die Hände über den Kopf, als ich aufblicke und fliegende Gefährte am Himmel kreisen sehe.
Es ist schwer vorstellbar, dass sich die Welt in einem Jahrhundert wirklich so sehr verändern kann. Wird in den nächsten hundert Jahren noch irgendetwas aus New Yorks Vergangenheit erhalten geblieben sein?
Wie in Trance laufe ich die Lexington Avenue hinauf, gierig saugen meine Augen all die neuen Eindrücke auf, während mein Kopf Mühe hat zu glauben, dass das, was ich sehe, die Realität ist. Ich sehe diese zukünftigen Einwohner von New York Schildern in den Untergrund folgen, zu etwas, das sich »Subway« nennt. In drei verschiedenen Häuserblocks komme ich an dem gleichen Laden vorbei, jeder sieht völlig anders aus als die anderen, aber alle tragen den gleichen Namen: »Deli«.
Ein köstlicher, buttriger Geruch weht mir entgegen, als ich in der Nähe eines Straßenverkäufers eine Kreuzung überquere. »Brezeln und Hotdogs!«, ruft er. Neben ihm steht ein weiterer Händler, der eine riesige Auswahl an Zeitungen und Zeitschriften verkauft. Ich werfe einen Blick auf die Titelseite der New York Times, die das Datum 5. Februar 1991 trägt. Golfkrieg !, schreit die Schlagzeile. Bodentruppen bereit zur Invasion in Kuwait. Ich wende mich ab und muss betrübt feststellen, dass diese Zeit nicht mehr Frieden verspricht als die Jahre nach dem Bürgerkrieg, aus denen ich komme.
Als ich die Ecke Fifth Avenue und Forty-Second Street e rreiche, bietet sich mir ein Anblick, der mich nach Luft schnappen lässt. Das Croton Reservoir, das zu meinen Lieblingsplätzen in der Stadt gehört hat, ist verschwunden. An seiner Stelle steht ein gewaltiges Bauwerk, das zwei ganze Häuserblöcke von der Fortieth bis zur Forty-Second Street einnimmt. Seine Fassade erinnert mich an das Windsor Mansion, und mein Herzschlag beschleunigt sich, als ich mich frage, ob ich vielleicht vor dem zukünftigen Haus der Windsors stehe. Aber beim genaueren Hinsehen entdecke ich den Schriftzug, der außen am Gebäude angebracht ist: NEW YORK PUBLIC LIBRARY . Es ist die größte, prachtvollste Bibliothek, die ich je gesehen habe.
Eine Gänsehaut überzieht meine Arme, als ich der Fifth Avenue folge und sehe, dass meine Vision vom Weihnachtsabend Wirklichkeit geworden ist. Die extravaganten Villen und stolzen Stadthäuser der 1880er Jahre sind verschwunden, und an ihrer Stelle stehen hohe Gebäude, in denen sich ein Geschäft an das
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