Timm Thaler
Die beiden Herren neben Timm unterhielten sich über das
Pferd, das sich an die Spitze gesetzt hatte. Aber dann kamen sie auf
„Südwind“ zu sprechen. Timm hörte in dem sich steigernden Lärm
der Zw schauer nur Bruchstücke des Gesprächs: „… viel gelernt…“,
„… spart seine Reserven…“, „… wird sich machen…“
Siegesaussichten schien „Südwind“ nicht zu haben. Er hielt den
vierten Platz, aber die Pferde vor ihm gewannen an Vorsprung.
Erwin und die Stiefmutter drangen jetzt in Timm, ihnen zu sagen,
auf welches Pferd er gesetzt habe. Aber der Junge war unsicher
geworden. Ängstlich verfolgten seine Augen das Rennen. „Südwind“
schob sich jetzt kaum merklich nach vorn. Aber die Strecke bis zum Ziel war nur noch kurz.
Da plötzlich strauchelte das Pferd an der Spitze. Die beiden
Pferde dicht hinter ihm scheuten kurz und drängten sich ein wenig zur Seite. In diesem Augenblick zog „Südwind“ gradlinig in einem
glänzenden Endlauf an ihnen vorbei und lief kurz darauf
unangefochten als Sieger durchs Ziel.
Das Rufen der Menge war mehr Enttäuschung als Jubel. Neben
sich hörte Timm sagen: „Eines der verrücktesten Rennen, die ich
erlebt habe!“
Auf der großen Gewinntafel erschien der Name „Südwind“ ganz
oben. Timm war erleichtert. Wie gern hätte er jetzt gelacht. Aber statt dessen nahm er nur stumm den Wettabschnitt aus der Tasche,
gab ihn der Stiefmutter und sagte: „Wir haben gewonnen! Bitte, hole du das Geld!“
Frau Thaler stürzte in Erwins Begleitung zu den Schaltern. Timm
fuhr, ohne auf die beiden zu warten, mit der Straßenbahn heim, holte aus der Standuhr den Vertrag und das ersparte Geld, steckte das eine ins Mützenfutter, das andere in die Brusttasche seines Mantels und wollte eben mit dem Mantel über dem Arm die Wohnung verlassen,
als er die Stiefmutter und Erwin kommen hörte. Schnell trat er hinter den Vorhang der kleinen Besenkammer.
Er horte die Stiefmutter seinen Namen rufen. Aber er verhielt sich still.
„Womagderjungebloß sein?“ hörte er dann.
„Eristsokomischinderletztenzeit.“ im Innern der Wohnung verloren
sich die Stimmen. Er hörte Erwin noch fragen: „Sind wir jetzt sehr reich?“ Und die schrille Stimme der Stiefmutter sagte etwas wie
„…undvierzigtausend!“
„Nun“, dachte Timm ganz kühl und ruhig. „Dann brauchen die
beiden mich sicher nicht mehr.“
Er verließ die Besenkammer, öffnete und schloß die Wohnungstür
so leise wie möglich, ging hart unter den Fenstern vorbei zum Park hinüber und rannte dann, so schnell ihn die Beine trugen, zum
Friedhof im Osten der Stadt.
Erst als der dicke schnauzbärtige Friedhofswärter ihn am Eingang
nach der Grabnummer fragte, wurde ihm klar, daß er wegen des
Marmorgrabsteins für seinen Vater hier wohl an der falschen Stelle sei. Immerhin wollte er einen Versuch machen. Er fragte: „Kann ich bei Ihnen einen Marmorgrabstein bestellen?“
„Marmor ist bei uns nicht zugelassen. Zugelassen ist Sandstein“,
brummte der Schnauzbart. „Außerdem bist du bei mir an der
falschen Adresse. Aber der Steinmetz hat sonntags geschlossen.“
Plötzlich kam Timm ein verwegener Gedanke.
„Wollen wir wetten, daß mein Vater einen Marmorgrabstein hat?
Darauf steht in Goldbuchstaben: Von deinem Sohn Timm, der dich
nie vergißt.“
„Die Wette hast du verloren, bevor du sie abgeschlossen hast,
Junge.“
„Ich wette trotzdem! Um eine Tafel Schokolade!“ (Timm hatte
auf dem Fenstersims der Portierloge eine Tafel Schokolade
entdeckt.)
„Kannst du denn eine Tafel Schokolade bezahlen, wenn du
verlierst?“
Timm zog seine Geldscheine aus der Manteltasche und zeigte sie.
„Wetten Sie jetzt?“
„Die verrückteste Wette, die ich jemals abgeschlossen habe“,
murmelte der Friedhofswärter. „Also meinetwegen!“ Sie besiegelten die Wette durch Handschlag und wanderten durch den riesigen
parkähnlichen Friedhof ans Grab des Herrn Thaler.
Schon von weitem sahen sie drei Männer in Arbeitskleidung auf
dem Grab. Der dicke Friedhofswärter beschleunigte den Schritt.
„Das ist doch…“ Er schnaufte wie ein Walroß und rannte jetzt
fast.
Auf das Grab war gerade ein frischer Stein gesetzt worden. Aus
Marmor. Der Stein trug in Goldschrift Namen und Lebensdaten des
Vaters. Und darunter stand: „Von deinem Sohn Timm, der dich nie
vergißt“.
Die Arbeiter kümmerten sich wenig um das Geschrei des
Friedhofswärters. Sie zeigten ihm einige Papiere, die
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