Timm Thaler
Gesicht, daß sie schlecht gekleidet sei und daß sie sich auf der Straße nicht mehr mit ihr sehen lassen könne. (Auf den Gedanken, ihrer sehr viel ärmeren Freundin ein Kleid zu kaufen, kam sie offenbar nicht.) Frau Bebbers Kuchen tadelte sie vor allen Leuten und kaufte weit teureres Gebäck in einer Konditorei der Innenstadt. (Daß Frau Bebber ihr wochenlang ganze
Berge von Kuchen angeschrieben hatte, war ihr offenbar entfallen.) Erwin, dem Frau Thaler heimlich zusätzliches Taschengeld gab,
spielte jetzt reicher Leute Kind. Er trug Schuhe mit lächerlich dicken Specksohlen, Anzüge mit langen Hosen und sehr bunte Krawatten.
Auch rauchte er heimlich und spielte den Pferdekenner.
Timm, von dem der Reichtum stammte, war der einzige, der ihn
heimlich verfluchte. Er lief oft stundenlang in abgelegenen Teilen der Großstadt herum in der Hoffnung, Herrn Lefuet zu begegnen. Er hoffte, daß der karierte Herr ihm sein Lachen wiedergäbe, wenn er künftig auf allen Reichtum verzichtete. Aber Herr Lefuet zeigte sich niemals.
Der karierte Herr jedoch hatte den Jungen keineswegs aus den
Augen verloren. Manchmal nämlich fuhr ein viertüriges Auto durch
Timms Wohngegend, und auf den Rückpolstern saß ein Herr mit
einer karierten Ballonmütze. Wenn dieser Mann Timm irgendwo
entdeckte, befahl er dem Chauffeur zu halten und beobachtete den
Jungen mit besorgter, wenn nicht sogar mit ängstlicher Miene.
Dieser Herr hatte auch dafür gesorgt, daß ein Werbekalender in die Gassenwohnung kam, in dem zwischen Reklameversen für Kaffee,
Kakao oder Butter Aussprüche berühmter Leute standen. Nicht
zufällig las man auf der ersten Seite:
„Man sollte einen Vertrag wie eine Heirat behandeln: genau und
sorgsam überlegen, ehe man ihn eingeht; aber treu daran festhalten, wenn man ihn geschlossen hat.
L. Lefuet“
Zum Glück für Timm schnitt die Stiefmutter dieses Blatt aus, weil die Rückseite mit Sterndeuterei gefüllt war. (Sie war unter dem
Sternbild des Skorpions geboren.)
Das Schlimmste für Timm wurde mit der Zeit die Feindseligkeit
in der Gasse. Man nahm sein immer ernstes Gesicht als Zeichen für Hochmut und Dünkel und warf ihn mit Erwin und der Stiefmutter in
einen Topf. Und auf diesem Topf stand in großen, fetten Lettern
geschrieben: „Neureiche Protze!“
Niemand war deshalb so froh wie Timm (soweit er noch froh sein
konnte), als die Stiefmutter die Gassenwohnung verließ und ein
Stockwerk in einer teuren Straße mietete.
Die Möbel, sofern sie nicht neu angeschafft worden waren,
verschenkte die Stiefmutter an die wenigen Leute in der Gasse, mit denen sie noch sprach. Sie wollte auch die Standuhr verschenken, in der Timms Ersparnisse versteckt waren. Zum Glück hörte der Junge
früh genug davon und bat, die Standuhr in sein Zimmer in der neuen Wohnung stellen zu dürfen. Er bat so eindringlich darum, daß die
Stiefmutter es mehr verwundert als verärgert gestattete. So zog der stundenschlagende Geldschrank mit in Timms erstes eigenes
Zimmer, in dem der Junge zum erstenmal allein und in Ruhe seine
Schularbeiten machen konnte.
Die Stiefmutter nahm sich in der neuen Wohnung ein
Dienstmädchen. Aber kein Mädchen hielt es längere Zeit bei ihr aus.
Auf die Marie folgte Berta, auf die Berta Klara, auf Klara folgte Johanna, und schließlich kam eine alte Frau, die Griet hieß. Die
blieb, weil sie sich nichts gefallen ließ und zurückzankte, wenn
Timms Stiefmutter mit ihr stritt.
Unter dem Zanken und Wiederversöhnen der beiden Frauen
vergingen die Jahre, bis Timm vierzehn war und einen Beruf
ergreifen mußte.
Die Stiefmutter wünschte und befahl, daß Timm als Lehrling in
ein Wettbüro eintreten sollte. Das hatte einen guten Grund: Genau an seinem dreizehnten Geburtstag hatte Timm sehr viel Geld auf ein
Pferd gesetzt, das nur durch eine Gefälligkeit der Rennleitung zum letzten Male mitlaufen durfte, bevor es sein Gnadenbrot erhielt. Auf dieses Pferd hatte niemand gewettet – außer Timm! Und weil Timm
darauf gewettet hatte, gewann das Pferd zum Staunen aller
Fachleute. Der Junge erhielt bare dreißigtausend Mark. Und nach
diesem Gewinn erklärte er seiner Stiefmutter, sie seien jetzt reich genug, und er werde nicht mehr wetten. Weder Tränen noch Schläge
konnten ihn umstimmen. Niemals mehr ging er zur Pferderennbahn.
Erwin und die Stiefmutter versuchten noch einige Male allein ihr
Glück. Aber als sie am Ende dreitausend Mark verwettet und kaum
dreihundert Mark gewonnen
Weitere Kostenlose Bücher