Timm Thaler
die
Oberleitung gerissen ist, stimmt’s?“
Traurig schüttelte Timm den Kopf. Er hätte die Wette lieber
verloren. Immerhin war ihm jetzt klar, daß Herr Lefuet über
Fähigkeiten verfügte, die man zumindest ungewöhnlich nennen
mußte.
Am Bahnhof fragte Herr Rickert nach Timms Gepäck.
„Alles, was ich brauche, habe ich“, antwortete Timm sehr
unbestimmt und sehr wenig kindlich. „Und meinen Paß habe ich im
Jackett.“
Der Junge hatte wirklich einen Paß. Als er vierzehn geworden
war, hatte er bei seiner Stiefmutter durchgesetzt, daß er einen
eigenen Paß bekam. Er hatte darauf hingewiesen, daß er sich an den Wettschaltern vielleicht ausweisen müßte. Und dieser Hinweis hatte genügt; denn es war zu jener Zeit gewesen, in der Timm sich
geweigert hatte zu wetten.
Nun zeigte sich, wie nützlich der Paß war. Denn Timm fuhr nach
Hamburg.
Herr Rickert hatte ein Abteil der ersten Klasse gemietet. An der
Tür stand auf einem Schildchen sein Name: Christian Rickert.
Reedereidirektor. Aber darunter stand noch ein Name. Und als Timm ihn las, wurde er blaß. Er las: Baron Louis Lefuet.
Als sie sich setzten, fragte Herr Rickert: „Ist dir nicht wohl,
Timm? Du bist plötzlich so blaß!“
„Das habe ich manchmal“, sagte Timm, und das entsprach
ungefähr der Wahrheit. Denn wer auf dieser Welt wird nicht
manchmal blaß?
Der Zug fuhr ein Stück am Ufer der Elbe entlang. Herr Rickert
betrachtete Fluß und Ufer sichtbar mit Genuß. Timm sah nichts
davon.
Die freundlichen Augen im Mopsgesicht musterten Timm
manchmal verstohlen. Aber sie glitten immer sogleich wieder auf die Flußlandschaft zurück.
Herr Rickert machte sich Gedanken über den Jungen und
versuchte endlich, ihn durch die Erzählung ulkiger
Seefahrtsgeschichten aufzumuntern. Aber er merkte bald, daß der
Junge zerstreut war und ihm nicht zuhörte.
Erst als Herr Rickert von selbst auf den Baron Lefuet zu sprechen kam, dessen Platz Timm einnahm, wurde der Junge sichtlich
aufmerksam und sogar gesprächig.
„Der Baron ist wohl sehr reich?“ fragte Timm.
„Unermeßlich reich! Er hat in allen Teilen der Welt
Unternehmungen. Die Hamburger Reederei, die ich leite, gehört ihm auch.“
„Wohnt der Baron in Hamburg?“
Herr Rickert machte mit den Händen eine unbestimmte
Bewegung, die soviel sagte wie: Was weiß ich! „Der Baron wohnt
überall und nirgends“, erklärte er dann. „Er ist heute in Hamburg, morgen in Rio de Janeiro und übermorgen vielleicht schon in
Hongkong. Sein Hauptsitz ist, soviel ich weiß, ein Schloß in
Mesopotamien.“
„Sie kennen ihn wohl sehr gut?“
„Niemand kennt ihn gut, Timm. Er verändert sich wie ein
Chamäleon. Jahrelang hatte er, um dir ein Beispiel zu nennen, einen verkniffenen Mund und stechende Augen, von denen ich hätte
schwören mögen, daß sie wasserblau waren. Als ich ihn gestern
wiedersah, hatte er warme braune Augen. Auch setzte er nicht wie
sonst auf der Straße eine Sonnenbrille auf. Das Merkwürdigste aber ist, daß dieser Mann, den ich vorher niemals habe lachen hören,
gestern wie ein kleiner Junge lachte. Er preßte auch nicht ein
einziges Mal die Lippen aufeinander, wie er es sonst zu tun pflegte.“
Timm blickte rasch zum Fenster hinaus. Unwillkürlich hatte er
die Lippen aufeinandergepreßt.
Herr Rickert spürte, daß irgend etwas in seiner Erzählung den
Jungen zugleich gefesselt und verstört hatte. Er wechselte das
Thema.
„Was willst du eigentlich in Hamburg?“
„Ich will Kellnerlehrling auf einem Schiff werden!“ Wieder
wunderte Timm sich über seinen plötzlichen Entschluß, den er im
Augenblick gefaßt hatte, der aber nahelag; denn als irgend etwas
muß man ja anfangen, wenn man zur See fahren will.
Das Mopsgesicht ihm gegenüber strahlte jetzt vor Gönnerstolz.
„Timm, du bist ein Glückspilz!“ sagte Herr Rickert beinahe
feierlich. „Wenn du zum Bahnhof willst, fährt eine Straßenbahn
extra deinetwegen zum Bahnhof; und wenn du eine Stellung
brauchst, schneit dir genau der Mann in den Weg, der sie dir
verschaffen kann!“
„Können Sie mich als Kellnerlehrling unterbringen?“
„Kellner auf Schiffen heißen Stewards“, korrigierte der
Reedereidirektor. „Und du wirst vermutlich als Moses oder
Messeboy anfangen. Wichtig ist im Augenblick nur eines: Sind deine Eltern einverstanden?“
Timm überlegte ganz kurz und sagte dann: „Ich habe keine Eltern
mehr!“ Die Stiefmutter verschwieg er; denn er wußte, daß sie
Weitere Kostenlose Bücher