Timm Thaler
Herr Thaler.“
Senhor van der Tholen schaukelte schweigend, und Timm blickte
wieder aus dem Fenster. Die Kutsche kehrte bereits vom Flugplatz
zum Schloß zurück. Selek Bei ritt wie am Tage zuvor nebenher. An
Lefuets Seite saß ein großer, fülliger Herr mit einer Glatze.
„Der Baron kommt schon zum Schloß zurück, Senhor van der
Tholen.“
„Dann will ich Ihnen kurz meine Bitte vortragen, Herr Thaler.
Der Erbschaftsvertrag ist so abgefaßt, daß der neue Baron…“
„Wieso der neue Baron?“ unterbrach ihn Timm. Dann aber
merkte er am Gesicht des Händlers, daß der vom Geheimnis des
Barons nichts wußte. Also fügte der Junge hinzu: „Entschuldigung, daß ich Sie unterbrochen habe.“
Obwohl van der Tholen ihn mit angehobenen Brauen musterte,
als erwarte er eine Erklärung für die seltsame Frage, sagte Timm
nichts mehr. So fing Senhor van der Tholen noch einmal von vorn
an: „Der Erbschaftsvertrag ist so geschickt abgefaßt, daß der neue Baron Ihnen den gesamten Besitz wieder streitig machen kann, wenn er will. Nun, das ist seine und Ihre Sache. Mich interessieren dabei nur die Stimm-Aktien.“
Timm sah durchs Fenster, wie Kutsche und Reiter am Fuß der
Treppe verhielten. Die Herren schienen ein lebhaftes Gespräch
miteinander zu führen.
„Was sind Stimm-Aktien?“ fragte der Junge.
„In unserer Gesellschaft, Herr Thaler, gibt es ein paar Aktien im Wert von etwa zwanzig Millionen portugiesischen Escudos. Wer die
besitzt, hat Stimmrecht im Verwaltungsrat. Er allein entscheidet, was geschieht, und sonst niemand.“
„Und erbe ich diese Stimm-Aktien, Senhor van der Tholen?“
„Einen Teil, junger Herr. Die übrigen gehören Selek Bei, Mister
Penny und mir.“
(Mister Penny war offensichtlich der füllige Glatzkopf, der jetzt mit Lefuet und Selek Bei langsam die Schloßtreppe hinaufschritt.)
„Und Sie wollen mir meine Stimm-Aktien abkaufen?“
„Das könnte ich gar nicht, weil der Baron darüber verfügt, bis Sie einundzwanzig sind. Aber sollten Sie das einundzwanzigste
Lebensjahr erreichen und die Erbschaft in aller Form antreten, dann würde ich Ihnen die Aktien gern abkaufen. Dafür biete ich Ihnen
heute schon eine beliebige Firma unseres Unternehmens an. Diese
Firma würde Ihnen auch dann gehören, wenn die Erbschaft aus
irgendeinem Grunde für ungültig erklärt werden würde.“
Der Portugiese erhob sich aus dem Schaukelstuhl. Sein Mund war
wieder das geschlossene Haifischmaul. Er hatte für seine
Verhältnisse ungewöhnlich viel geredet. Nun war es an Timm, etwas zu sagen.
Er sagte: „Ich werde mir Ihren Vorschlag überlegen, Senhor van
der Tholen.“
„Tun Sie das, junger Herr! Sie haben drei Tage Zeit.“ Damit
verließ der Kaufmann den Jungen.
Als Timm aus dem Fenster blickte, war die Schloßtreppe leer.
Hier saß nun im Turmzimmer eines Schlosses im hohen
Mesopotamien ein Junge namens Timm Thaler, vierzehn Jahre alt
und aufgewachsen in einer Großstadtgasse, ein Knabe ohne Lächeln, aber an Macht und Reichtum ein künftiger König, falls ihm an dieser Krone etwas lag.
Obwohl Timm das Ausmaß seines Reichtums noch gar nicht
kannte, wußte er doch schon, daß eine riesige Flotte von Schiffen unter dem Namen des Barons die Meere befuhr. Er ahnte, daß die
großen Märkte der Welt – wie jener in Athen – seinem Reichtum
tagtäglich neue Reichtümer hinzufügten; und er sah eine ganze
Armee von Direktoren, Unterdirektoren, Angestellten und Arbeitern, Hunderte, Tausende, vielleicht Zehntausende, die ausführten, was er befahl. Diese Vorstellung war ein Kitzel. Wenn Timm daran dachte, daß er einmal einen lächerlichen Kampf um den Platz für seine
Schularbeiten hatte kämpfen müssen, wenn er daran dachte, wie
klein und unbedeutend Präsidents vom Wasserwerk ihm gegenüber
geworden waren, dann kam er sich hier oberhalb des seltsamen, aber doch prächtigen Parks wie jener einsame bayerische Märchenkönig
vor, von dem eine ältliche Lehrerin in der Geschichtsstunde
geschwärmt hatte. Timm träumte, daß er in einer goldenen Kutsche, begleitet von Selek Bei zu Pferde, vor Frau Bebbers Bäckerladen
vorführe – unter den Augen einer maulaufsperrenden Nachbarschaft.
Der Junge im Turmzimmer vergaß für eine Weile sein verlorenes
Lachen und träumte den Traum vom Königsein.
Die Wirklichkeit sah anders aus. Die Wirklichkeit hieß Margarine
und sollte ihn an sein verlorenes Lachen deutlich genug erinnern.
Dreiundzwanzigster Bogen
Die
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