Timm Thaler
Gestalt, die für Timms Augen
beinahe eine Figur aus dem Panoptikum war, ein sehr gebildeter
Herr zu verbergen. Der Augenschein und die Wirklichkeit
unterschieden sich so sehr voneinander wie eine Wachsblume von
einer lebendigen Rose. Das eben war es, was Timm verwirrte. Aber
der Junge hatte längst gelernt, seine Gefühle zu verbergen. Höflich antwortete er dem alten Selek Bei: „Ich freue mich, Ihre
Bekanntschaft zu machen. Der Baron hat mir schon viel von Ihnen
erzählt.“ (Das stimmte zwar nicht; aber Timm hatte solche höflichen Schwindeleien jetzt oft gehört und machte sie nach.)
Eine offene vierrädrige Kutsche, die von zwei Pferden gezogen
wurde, brachte sie zum Schloß. Selek Bei ritt nebenher und
unterhielt sich dabei mit dem Baron auf arabisch.
Als die Kutsche um das Olivenwäldchen bog, lag das Schloß vor
ihnen, das einen sanften Abhang krönte.
Es war ein Monstrum, ein backsteinernes Spektakel mit
Zinnentürmchen und Regenwasser speienden Drachenköpfen am
Ende der Dachrinnen.
„Glauben Sie, bitte, nicht, ich hätte diese Scheußlichkeit gebaut“, wandte der Baron sich an Timm. „Ich habe das Ding einer
verschrobenen englischen Lady abgekauft, weil dieser Winkel der
Welt mir gefällt. Nur der Park wurde von mir angelegt.“
Dieser Park, der in Terrassen den Abhang hinabstieg, war auf
französische Art angelegt. Die zu Kegeln, Würfeln und Kugeln
geschnittenen Bäume und Büsche mußten mit Zirkel und Lineal
gepflanzt worden sein, so schnurgerade waren die Alleen, so peinlich gezirkelt die Rondells. Jede Terrasse bildete ein anderes Ornament.
Die Wege schienen mit einer Art rotem Kies bestreut zu sein.
„Wie gefällt Ihnen der Park, Herr Thaler?“
Timm, der so viel beschnittene Natur einfach blödsinnig fand,
antwortete: „Er ist eine gut gelöste Rechenaufgabe, Baron!“
Lefuet lachte. „Sie umschreiben Ihre Abneigung sehr höflich,
Herr Thaler. Ich muß sagen, Sie entwickeln sich vortrefflich.“
„Wenn ein so junger Mensch nicht sagt, was er meint, entwickelt
er sich schlecht“, mischte sich Selek Bei vom Pferde aus ins
Gespräch. Er sagte es ziemlich laut, um das Räderrasseln zu
übertönen.
Lefuet antwortete ihm auf arabisch, und zwar in ziemlich
scharfem Tone, wie es Timm schien. Der Reiter gab keine Antwort.
Er sah den Jungen nur mit einem langen, nachdenklichen Blick an.
Kurz darauf verabschiedete er sich und ritt in scharfem Trab um den Hügel herum auf ein fernes Gebirge zu.
Der Baron sah ihm nach und sagte: „Ein kluger Kopf, aber
schrecklich moralisch. Er hat in den ausländischen Zeitungen
gelesen, daß ich das Grab des Hirten Ali für mein eigenes
ausgegeben und mich kurzerhand in meinen Zwillingsbruder
verwandelt habe. Er wird darüber schweigen, aber er verlangt, daß ich als Buße seinen Gläubigen einen neuen Tempel baue. Es wird
mir wohl nichts anderes übrigbleiben.“
„Wenn ich könnte, würde ich jetzt darüber lachen“, erwiderte
Timm ernst.
An seiner Stelle lachte der Baron. Er lachte kullernd und mit
einem Schlucker am Schluß. Und diesmal bedrückte es Timm nicht.
Der Junge war sogar zufrieden darüber, daß er sein Lachen fortan
stets in greifbarer Nähe haben werde. Er meinte, so könne er bei
passender Gelegenheit schnell danach greifen. Er merkte nicht, daß das ein Irrtum war. Timm richtete sich darauf ein, den Baron bis auf weiteres zu begleiten.
Die Kutsche hielt jetzt unterhalb der Treppe, die von Terrasse zu Terrasse bis hinauf zum Schloß führte. Von hier unten sah sie
riesenhaft aus, fast so, als ob sie kein Ende nähme. Das Seltsamste an ihr waren aber die Hunde: steinerne Hundestandbilder, die links und rechts auf den einzelnen Stufen standen und starr und stumm ins Tal hinausglotzten. Es mußten Hunderte von Hunden sein, die da
standen: Pinscher, Dackel, Setter, Foxe, afghanische Windhunde,
Chow-Chows, Spaniels, Boxer und Spitze und Möpse. Sie alle
bestanden aus glasierter, heftig bemalter Keramik, so daß sich ein buntes Gewimmel links und rechts der Treppe bis zum Schloß
hinaufzog.
„Die alte Lady war eine Hundeliebhaberin“, erklärte der Baron.
Und Timm antwortete: „Das sieht man.“
Lefuet wollte dem Kutscher gerade Anweisung geben, auf dem
Serpentinenweg links der Treppe zum Schloß hinaufzufahren, als
hinter einer Bulldogge aus Keramik auf halber Höhe der Treppe ein Mann erschien und ihnen zuwinkte.
„Das ist Senhor van der Tholen“, sagte Lefuet. „Steigen wir aus
und
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