Timm Thaler
Sitzung
Es gab im Schloß einen holzgetäfelten Beratungsraum, in dem ein
langer Tisch stand, der von schweren Armsesseln umgeben war.
Wenn man in die Tür trat, fiel der Blick auf ein Gemälde in breitem Goldrahmen, das an der Stirnwand des Raumes hing. Es war ein
berühmtes Selbstbildnis des Malers Rembrandt, von dem die Welt
glaubte, es sei in einem Kriege verlorengegangen.
Unter diesem Bildnis, am Kopf des Tisches, saß der Baron. Links
von ihm saßen Selek Bei und Timm Thaler, rechts von ihm Mister
Penny und Senhor van der Tholen. Man sprach – diesmal ganz
offiziell – über „die Lage auf dem Buttermarkt“. Und Timms wegen
sprach man deutsch. (Obwohl Mister Penny Schwierigkeiten mit der
deutschen Sprache hatte.)
Am Anfang der Sitzung (denn eine Besprechung dieser Art nennt
man Sitzung, so als ob das Sitzen dabei die Hauptsache wäre), am
Anfang der Sitzung also hatte Mister Penny nüchtern und
geschäftsmäßig gefragt, ob Timm Thaler zukünftig an allen
geheimen Beratungen teilnehmen solle. Selek Bei war dafür
gewesen; aber die übrigen Herren hatten sich dagegen
ausgesprochen. Der Junge sollte nur an dieser Sitzung teilnehmen; erstens, um ein wenig mit dem Unternehmen vertraut zu werden,
zweitens, weil er über den Verbrauch von Margarine in seiner Gasse berichten sollte.
Aber zunächst sprach man über die Scherenschleifer von
Afghanistan, und das war seltsam genug. Timm erfuhr aus dem Hin
und Her des Gesprächs das Folgende: Die Baron-Lefuet-Gesellschaft hatte in Afghanistan etwa zwei Millionen sehr billiger Messer und Scheren verschenkt, aber nicht aus purer Menschenliebe, sondern um dabei etwas zu verdienen. Diese Messer und Scheren kosteten die
Gesellschaft nämlich höchstens fünfzehn Pfennig. Das Schleifen
aber kostete zwanzig Pfennig, und da es keine guten Messer und
Scheren waren, mußten sie mindestens zweimal im Jahr geschliffen
werden. Nun waren aber alle Scherenschleifer in Afghanistan
Angestellte der Gesellschaft des Barons, und ein gewisser
Ramadulla, ehemals ein gefürchteter Räuber und Wegelagerer, hielt sie in strenger Zucht. Er versorgte sie mit Schleifsteinen und
Kunden, verlangte dafür aber so viel von ihren Einnahmen, daß er
die Hälfte dessen, was die Scherenschleifer verdienten, an die
Gesellschaft des Barons abgeben konnte. Was dabei noch für die
Scherenschleifer übrigblieb, kann man sich leicht vorstellen.
Demnächst sollte nun in Afghanistan auch noch für die
Scherenschleifer geworben werden. Und das konnte man in einem so
armen Lande nicht mit Radios oder Zeitungen oder Plakaten tun;
denn die wenigsten Afghanen konnten lesen, und Radios gab es
kaum. Deshalb hatte man Straßensänger bezahlt, die das Lied vom
Scherenschleifer singen mußten. In diesem Lied, über das die Herren sich lange unterhielten, wurde nicht etwa die Kunstfertigkeit der Schleifer gelobt, sondern es wurde ihre Armut besungen, damit die Leute bei ihnen aus Mitleid ihre Messer und Scheren schleifen
ließen. In Deutsch hatte das Lied etwa folgenden Wortlaut:
Er dreht und dreht den Schleifstein,
Der arme Scherenschleifer,
Er dreht und dreht und dreht ihn
Für zwanzig Pfennig nur.
Er zieht und zieht durchs Städtchen,
Der arme Scherenschleifer.
Bringt Messer her, ihr Mädchen,
Damit er schleifen kann.
Die letzte Strophe sollte zeigen, wie glücklich der Schleifer ist, wenn man ihm Scheren und Messer bringt:
Nun schleift und schleift und schleift er,
Der frohe Scherenschleifer.
Habt Dank, ihr guten Leute!
Nun kauft er Brot und Wein.
Daß die armen Scherenschleifer ihren Hauptgewinn an Ramadulla
abgaben und daß dieser wiederum den größten Teil des Geldes in
dieses Schloß schaffte, verschwieg das Lied.
Timm dachte an den alten Mann mit der taubstummen Tochter,
der in seiner Gasse die Messer und Scheren geschliffen hatte, und fragte sich im stillen, ob dieser Alte wohl auch seinen Gewinn mit irgendeiner Gesellschaft teilen mußte. Der Junge war bedrückt bei dem Gedanken an dieses schmutzige Königreich, das er erben sollte; und Selek Bei schien die Gedanken des Jungen zu erraten. Er sagte:
„Der junge Herr scheint die Methoden der Gesellschaft nicht zu
billigen. Er ist vermutlich der Meinung, daß der Räuber Ramadulla sein Gewerbe nicht gewechselt hat, sondern nur etwas zivilisierter räubert als vorher. Nun, meine Herren, dieser Meinung bin ich
auch.“
„Uir kennen Ihre Meinung“, sagte Mister Penny trocken. Aber der
Baron
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