Timm Thaler
Hotels. Dort
also würde Jonny in einem Auto auf ihn warten und ihn dann nach
Ovelgönne fahren.
Aber der Zeitpunkt war ihm noch unklar.
Wähle die (schwarze!) Stunde der Straßenbahnen.
Zweierlei Straßenbahnerlebnisse standen mit seinen Freunden in
Verbindung: die umgeleitete Straßenbahn, in der er mit Herrn
Rickert gesessen hatte, und die fliegenden Straßenbahnen in Genua, die er mit Jonny gesehen hatte. Beide Erlebnisse mußten gemeint
sein; denn das Wort „Straßenbahn“ stand in der Mehrzahl.
Die Stunde der Straßenbahnen? Um welche Zeit hatte er denn die
Erlebnisse gehabt? Die fliegenden Straßenbahnen hatte er um die
Mittagszeit gesehen, gegen zwölf Uhr also. Und als er Herrn Rickert in der Straßenbahn zum erstenmal gesehen hatte, war es auch Mittag gewesen.
Also zwölf Uhr mittags! Und jetzt war es… (Timm blickte auf
seine Armbanduhr)… fünf Uhr nachmittags. Sollte er also erst
morgen kommen? Oder hätte er schon heute mittag kommen sollen?
Aber da war noch das Wort „schwarze“, das vor „Stunde“ stand.
In Klammern und mit einem Ausrufezeichen. Was aber ist eine
schwarze Mittagsstunde?
Wieder ging ihm der Sinn einer ziemlich einfachen
Verschlüsselung nicht sogleich auf.
Aber dann war auch dieses Rätsel gelöst: Gemeint war die
schwarze Zeit um zwölf Uhr. Also Mitternacht! (Und bis dahin
waren es noch sieben lange Stunden.)
Der Rest der Nachricht war wieder einfach zu begreifen: Fürchte die Ratte und täusche sie. Der Weg ist einfach. Aber wähle
Hintertreppen, um zu ihm zu gelangen. Vertrau uns und kommt
Timm sollte sich also vor Lefuet in acht nehmen und heimlich das
Hotel verlassen, vielleicht sogar in einer Verkleidung; denn in dem Wort „Hintertreppen“ steckte (wie in Hintertreppenromanen) die
Romantik der Schurken und verkleideten Helden: Hintertreppen-
Romantik.
Der Junge fühlte sich, als er den geheimnisvollen Zettel
entschlüsselt hatte, leicht wie ein Vogel. Ein Drang zu lachen stieg in ihm auf. Und das Seltsame war, daß seine Lippen sich dabei nicht
wie sonst hart aufeinanderpreßten. Im Gegenteil: Ihm war, als
lächele sein Mund.
In freudigem Erschrecken sprang Timm auf und betrachtete sein
Gesicht im Spiegel: Es hatte Kringel in den Mundwinkeln wie die
italienischen Porträts des Palazzo Candido in Genua. Es war kein
Lachen, nicht einmal ein Lächeln, wenn man es genau nahm; aber
die Kringel in den Mundwinkeln waren eindeutig da. Und seit dem
Vertragsabschluß unter dem Kastanienbaum waren sie nie mehr
dagewesen.
Es hatte sich also schon etwas geändert an diesem Tage. Die
Hoffnung hatte wie der Pinsel eines Malers etwas auf sein Gesicht gezaubert: den Anflug eines Lächelns.
Timm steckte das Zettelchen wieder in eine Tasche seiner
Anzugjacke, löschte das Licht, verließ das Bad und setzte sich mit übereinandergeschlagenen Beinen in einen Sessel des Salons, um
nachzudenken.
Der Baron saß während dieser Zeit – nicht weit von Timm
entfernt – im Alsterpavillon. Er hatte eine Besprechung mit einem Vertreter jener ägyptischen Firma, die auf den Markennamen
„Palmaro“ Anspruch erhob. Die Firma verlangte, daß Lefuets
Margarine einen anderen Namen bekäme.
Der Baron zeigte bei diesem Gespräch nicht die Gelassenheit und
Überlegenheit, die ihm zur zweiten Natur geworden war, seit er das Lachen besaß. Gewiß, es hing sehr viel davon ab, daß die
Markenmargarine sich jetzt unter dem vorbereiteten Namen
möglichst schnell Legionen von Käufern eroberte. Aber der Baron
durfte keinesfalls merken lassen, wie wichtig ihm die Sache war. Er mußte lächelnde Gelassenheit zeigen. Eben deshalb und für solche
Zwecke hatte er ja das Lachen gekauft.
Als Lefuet an einer passenden Stelle das Lachen ertönen ließ,
samt dem Kullern und dem Schlucker, wie es sich gehörte, kam es
ihm so vor, als fehle etwas daran. Auf seinen Gesprächspartner
schien es eher peinlich zu wirken.
Der Baron entschuldigte sich für einen Moment und begab sich in
den Waschraum des Alsterpavillons. Hier stellte er sich vor den
Spiegel, produzierte das Lachen Timms und beobachtete dabei sein
Gesicht genau.
Auf den ersten Blick schien alles unverändert. Aber bei
genauerem Hinsehen – der Baron lachte zum zweitenmal für den
Spiegel – bei genauerem Hinsehen fehlten die hübschen Kringel in
den Mundwinkeln. Das Lachen wirkte daher gezwungen, künstlich:
ein Lachen aus zweiter Hand.
In Lefuet stieg ein Gefühl auf, das ihm in den letzten
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