Timm Thalers Puppen
Thema Wohlhabenheit und Anspruchslosigkeit. Falls wir sie hören wollten…
Wir wollten sie natürlich hören. Und so erzählte Timm, nachdem er den Bootsfahrer gebeten hatte, nicht allzu schnell zu fahren, bei unserer Ausfahrt in das Meer und danach auf die Meere die Geschichte:
Tante Rosi
oder
Verpackung macht das Leben schön
Vor den Tagen des Wohlstands wurde der achtjährige
Martin von einer alten Tante namens Rosi immer mit
englischen Bonbons beschenkt, wenn er für sie einkaufen ging. Martin hielt seine Tante für sehr reich. Sie hatte nämlich, wie er wußte, Aktien, und in der kleinen gemieteten Wohnung, in der sie lebte, standen nicht weniger als sechsundzwanzig große Delfter Deckelvasen in Weiß und Blau, die einen
»kolossalen Wert« hatten, wie Martins Schwester Ilse sagte.
In Wirklichkeit war Tante Rosi aber weder reich noch arm.
Sie war so irgend etwas dazwischen. Zwar war sie sehr reich aufgewachsen, zusammen mit Martins verstorbenem Vater, in einem großen Haus mit einem Park, in dem es einen See mit Binsenufer gab; aber dann war ihr Vater – man kann sagen, über Nacht – ein armer Mann geworden, und von dem
Herrenhaus war die Familie in das Gärtnerhaus gezogen. Am Ende waren von dem großen Reichtum nur ein paar Aktien übriggeblieben, die Tante Rosi jetzt besaß und die ihr jährlich so viel einbrachten, daß sie die Wohnungsmiete davon bezahlen konnte. Im übrigen lebte Tante Rosi von Stoffresten, von Resten aus den großen Tuchfabriken, die sie zweimal im Jahr von einem gemieteten Lieferwägelchen abholen ließ und auf dem Lande an kleine Geschäfte verkaufte.
Tante Rosi lebte bescheiden, aber in sozusagen feiner Bescheidenheit. Sie war immerhin von kostbaren Vasen umgeben, die Reste aus dem alten Reichtum waren, und das, was Martin für sie einkaufte, ein Viertelpfund Ingwerstäbchen, ein Fläschchen Samoswein, zwei Tafelchen
Orangenschokolade oder ein Gläschen mit Früchten in Rum, war teure Feinkost – Luxusleckerei.
Doch in den Tagen des Wohlstands änderte sich allmählich alles für Tante Rosi. Da gab es zwar die Reste aus den Tuchfabriken immer noch, aber kaum jemand kaufte sie ihr jetzt noch ab, auch nicht mehr auf dem Lande. Und ein Viertelpfund Ingwerstäbchen gab es nicht mehr. Man kaufte jetzt Ingwer in Honig, und zwar in einem Porzellangefäß, das man natürlich mitbezahlen mußte. (Es glich ein wenig einer Delfter Deckelvase.) Auch gab es Samoswein nicht mehr in Viertelliterflaschen, und Früchte in Rum gab es nur in Kristallgefäßen, die teurer waren als die in ihnen
schwimmenden Früchte.
Als Martin zwölf Jahre alt war, sah er seine Tante sich merkwürdig verändern. Das Einkaufen besorgte sie jetzt selbst, und zwar mit abgezähltem Kleingeld in einem
unscheinbaren roten Kinderportemonnaie, um keine Diebe anzulocken, wie sie sagte. Auch hatte sie jetzt nie mehr englische Bonbons im Haus, auch keine Ingwerstäbchen mehr und keine Schokolade. Was sie jetzt einkaufte, waren vor allem Kartoffeln und Eier. Kam Martin einmal bei Tante Rosi vorbei, die jetzt drei Schlösser an der Flurtür hatte, kriegte er allenfalls ein Spiegelei über zwei Salzkartoffeln.
»Ich habe jetzt gerade noch so viel, daß ich mein nacktes Leben fristen kann«, sagte die Tante.
Wenn Martin, ein baumlanger Kerl inzwischen und schon Mopedfahrer, der Tante vorschlug, ihre Aktien und Vasen zu verkaufen, da sie von dem Erlös selbst bis ins hohe Alter noch gut werde leben können, dann fauchte Tante Rosi katzenhaft und sagte: »Das Geld, das man auf Banken spart, ist dreimal in meinem Leben schon kaputtgegangen. Die Aktien sind aber nie kaputtgegangen. Und die verkauf ich nicht. Ich müßte ja verrückt sein.«
So lebte Tante Rosi in der Zeit der kostbaren Verpackungen von Eiern und Kartoffeln, bis sie den Martin eines Tages bat –
er war inzwischen vierzehn –, sich zu erkundigen, was eine ihrer Delfter Vasen ihr wohl brächte.
Martin, ein flinker Junge, wenn’s ums Geld ging,
fotografierte eine Vase, maß sie aus, pauste das
Markenzeichen ab und ging zu einem Porzellanhändler. Der sagte erst einmal, als Martin ihm etwas von Porzellan erzählte:
»Die Delfter Ware ist kein Porzellan. Sie ist Steingut mit Bleiglanz, junger Herr. Aber falls Ihre Vase um
siebzehnhundert herum gefertigt worden ist, kann sie trotzdem noch einen guten Preis erzielen. Darf ich sehen?«
Der Händler sah sich Foto, Ausmaße und Warenzeichen an und sagte dann: »Ich kann Ihnen achthundert Mark für
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