Timm Thalers Puppen
diese Vase bieten.«
Martin, ein, wie gesagt, schon schlauer Junge, sagte der Tante, daß die Vase ihr sechshundert Mark einbrächte.
Damit jedoch war für die Tante das Thema Vasenverkauf beendet. »Verschenken kann ich meine letzten Kostbarkeiten nicht«, erklärte sie. »Dafür bin ich zu arm.«
Drei Jahre lang lebte Tante Rosi weiter von Eiern und Kartoffeln. Sie glich bald (was sie vor dem Spiegel selbst sagte) einem halbverhungerten Huhn. Ob zwischen ihrer Haut und ihren Knochen irgendwo noch Fleisch vorhanden war, das durfte man bezweifeln. Im vierten Jahr aber brachten ihre Aktien einen unerwarteten kleinen Gewinn, und Tante Rosie lud den nun schon siebzehnjährigen Martin zu einer kleinen Reise ein. Sie fuhren, als Martin Sommerferien hatte, in das Dorf, an dessen Rand in einem Park das Haus steht, in dem Tante Rosi aufgewachsen war. Zu diesem Haus, das jetzt ein Heim für Invaliden war, führte die Tante ihren Neffen.
Sie konnten ungehindert durch den Park spazieren und kamen ungehindert bis zum See.
Beim Ufer, an dem Binsen wuchsen, ließen sie sich auf einer Holzbank nieder. Der See lag still im Sommerlicht, die Frösche quarrten, und Libellen schossen vorüber.
»Von diesem See«, erklärte Tante Rosi, »kommt unsere Familie her. Hier hat sie, seit dem vierzehnten Jahrhundert schon, Fische und Krebse mit Netzen und Reusen gefangen, immer mit allerhöchster fürstbischöflicher Erlaubnis – bis mein Großvater, dein Urgroßvater, einen Tuchhandel begann und bald darauf ein Reicher im Lande wurde.«
»Und wo, Tante Rosi, ist all der Reichtum geblieben?«
fragte Marin.
»Mein Vater, der dein Großvater war, ein Mann mit tausend Ideen, aber ohne Sitzfleisch, hat alles verpulvert, mit guten Absichten und schlechten Ratgebern. Und nun sitze ich hier, ein halbverhungertes Huhn, und bin die letzte, die noch ein paar Vasen und ein paar Aktien hat. Und die sollen, wenn ich mal nicht mehr bin, dir und deiner Schwester Ilse gehören.
Macht damit, was ihr wollt. Das Leben ist ja sinnlos. Und nun laß mich allein, mein Junge. Ich möchte ein bißchen träumen.«
Da ging Martin in das Dorfgasthaus zurück, in dem die Tante und er sich eingemietet hatten, und als Tante Rosi am Abend nicht erschien, ging er zum Tanz in einen Dorfkrug, den es hier noch gab.
Er tanzte dort bis früh um drei und schlich, als er danach wieder im Gasthaus war, auf Zehenspitzen in sein Zimmer, um die Tante im Nebenzimmer nicht zu wecken.
Doch Tante Rosi weckte niemand mehr. Am nächsten
Morgen fand man sie im See, am Ufer zwischen den Binsen.
Ihre Schuhe standen, säuberlich nebeneinander, unter einer Holzbank. Sie war zurückgegangen in das Wasser, von dem ihre Familie hergekommen war.
Die Untersuchung der Leiche ergab, daß Tante Rosi zwar ertrunken war, daß sie mit Sicherheit aber auch dann gestorben wäre, wenn sie den Gang ins Wasser unterlassen hätte. Sie wäre gestorben an den Folgen allzu langen Hungerns.
Begraben wurde Tante Rosi, mit Erlaubnis der Behörden, im Park ihres ehemaligen Elternhauses, in dem auch ihre Eltern und Großeltern lagen. Martin weinte bei dem Begräbnis sehr.
Nach dem Begräbnis seiner Tante aber ging er in
Begleitung seiner Schwester Ilse zur Testamentseröffnung.
Hier erfuhren die Geschwister, daß sie die alleinigen Erben Tante Rosis wären.
Drei Wochen später stellte sich heraus, daß Tante Rosis Delfter Deckelvasen zu einer sehr gesuchten Serie aus dem Jahre siebzehnhunderteins gehörten und daß die Aktien gerade äußerst günstig standen. Also verkauften die Geschwister beides, und sie erlösten eine beträchtliche Summe. Dafür erwarben sie teure Verpackungen, Kleider, Anzüge und zwei schicke Autos. In den Kartons, in denen ihre neue Kleidung lag, las man, schön golden und auf Schwarz gedruckt, die Werbung: »Verpackung macht das Leben schön.«
Als Timm Thaler die Geschichte beendet hatte, war die kleine Mole des Seebades, an der wir aussteigen mußten, schon sichtbar. Unser Bootsmann, der merkte, daß er wieder schneller fahren durfte, drehte den Motor voll auf, und nun hüpften wir über die Wellen. Krescho sagte dabei: »Wie kann man nur mit so viel Geld verhungern? Ich versteh das nicht.«
»Ich schon«, sagte sein Vater und erklärte: »Man nennt das Altersgeiz. Schau, wer, wie Tante Rosi, nichts mehr auf der Welt hat als eine bestimmte Summe Geldes, gleich, ob in Aktien oder auf der Bank, und dabei merkt, daß seine Kräfte schwinden, der denkt entsetzt daran, daß er
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