Timoken und der Trank der Unsterblichkeit
das alles verstanden?“, fragte er die anderen.
„Ja, das haben wir“, antwortete Edern. „Dieser schwarze Hengst ist besessen, wie wir es uns gedacht hatten. Aber warum hat es der Hexenjunge auf dich abgesehen, Timoken?“
„Er will nicht mich.“ Timoken hob den Mondumhang von der Matratze auf, den Isabelle dort hatte fallen lassen. „Er will das hier. Und vielleicht noch etwas, was ich nicht mehr besitze.“
Alle warteten darauf, dass er fortfuhr, und so erzählte er ihnen widerstrebend von dem Elixier, das im Fluss verloren gegangen war, vom verborgenen Königreich und wie sein Vater und seine Mutter umgekommen waren, von den Viridees und zuallerletzt auch von seiner Schwester Zobayda. Als er geendet hatte, war als einziges Geräusch im Raum das leise Schnarchen der Alten zu hören.
Timokens Arm begann erneut wehzutun und wieder spürte er ein leichtes Ziehen in seinem Herzen. „Ich denke, wir sollten jetzt schlafen gehen“, sagte er. „Und morgen werden wir entscheiden, wie wir vorgehen.“
Er spürte die ehrfurchtsvollen Blicke der Kinder auf sich, doch noch immer sprach keiner ein Wort. Jetzt habe ich ihnen alles erzählt, dachte Timoken, oder fast alles. Für mehr als zweihundert Jahre hatte er seine Geschichte allein mit sich herumgetragen. Doch nun wussten auch diese Kinder, denen er vertraute, davon und er fühlte sich erleichtert und glücklich, sein Leben endlich mit jemandem teilen zu können. Das Einzige, was er für sich behalten hatte, war sein und Gabars wahres Alter.
Sie bereiteten alles für die Nacht vor und beschlossen, alle zusammen in einem Raum zu schlafen. Das war sicherer. Die Pferde wurden aus dem Wald geholt und in der Nähe des Hauses angebunden. Es gab reichlich Heu für die Tiere und es blieb sogar noch genügend übrig, um es als Schlafunterlage mit ins Haus zu nehmen. Timoken hing den Mondumhang als Schutz vor den falschen Mönchen, die jederzeit zurückkehren konnten, von innen vor die Tür. Die Kerzen wurden gelöscht und ein Kind nach dem anderen rollte sich schon bald auf dem Boden zusammen und schlief ein. Timoken war nur für ein paar Minuten eingenickt, als er plötzlich wieder hochschreckte. Er hatte etwas vergessen. Vorsichtig stieg er über die schlafenden Kinder, entriegelte die Tür und schlich hinaus zum Stall.
Gabar lag auf dem Boden und ruhte, doch er schlief nicht. Timoken nahm den Sattel und die schweren Taschen von seinem Rücken. Dabei fand er ein paar Trockenfrüchte in einem der Beutel und hielt sie dem Kamel hin. Gabar schnaubte dankbar und fraß sie ihm aus der Hand.
„Wir haben einen weiten Weg zurückgelegt, du und ich“, sagte Timoken und hockte sich neben das Kamel. „Und jetzt werden wir zusammen alt.“
Gabar erwiderte nichts, doch als Timoken aufstand, um wieder ins Haus zu gehen, brummte er leise: „Meine Familie, bitte bleib bei mir.“ Timoken dachte für einen Moment an den Mondumhang, der nicht in Reichweite war. Doch was spielte das für eine Rolle? Hauptsache, der Umhang beschützte die Kinder. Er ließ sich im Stroh nieder, lehnte sich gegen den warmen Körper des Kamels und schlief ein.
Als Timoken am nächsten Morgen das Haus betrat, war eine heftige Diskussion darüber entbrannt, was mit Madame Grüner geschehen sollte. Die Alte wurde schließlich von dem lauten Geplapper wach. Einen Moment lang betrachtete sie die Kinder mit finsteren Blicken unter ihren buschigen Augenbrauen hervor, dann erinnerte sie sich wohl daran, was passiert war, und sie begann sich vor- und zurückzuwiegen und unaufhörlich zu jammern.
„Madame, wie können wir Euch helfen?“, fragte Timoken besorgt.
Die Alte hielt inne, runzelte die Stirn und antwortete, dass sie nicht in einem Geisterdorf bleiben, sondern ihre Cousine aufsuchen wolle, die nur einen Tagesritt entfernt lebe. Doch es gebe ein Problem. Obwohl die Pferde der Dorfbewohner nicht von dem vergifteten Wasser getrunken hätten, könne sie nicht einfach losreiten. Ihre Hände seien zu gebrechlich, um die Zügel zu halten, und sie könne kaum noch aufrecht sitzen.
„Wir werden Euch hinbringen“, schlug Timoken vor.
Martin, einer der französischen Jungen, bot sogleich an, sein Pferd mit Madame Grüner zu teilen. Er versprach, sie richtig fest- und sein Pferd im Zaum zu halten, sodass sie nicht herunterfallen würde.
Doch es war ziemlich schwierig, die Alte überhaupt in den Sattel zu hieven. Zuerst verfing sie sich mit den Füßen in ihrem langen Rock, verhedderte sich
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