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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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Kleidungsstück
    1 Jesus aus Silber an einem Kreuz aus schwarzem Stein
    1 Eisenbecher
    Seine Armut war eine Schande für mich. Giovanni Battista, Sohn meiner Unabhängigkeit, der den Namen meines Vaters und die geballte Aufmerksamkeit meiner Familie bekommen hatte, war er doch unser jüngster, liebenswertester und hübschester Sohn, besaß wahrhaftig fast nichts.
    Eines Vermerks in der Bestandsliste nicht würdig, da von nichtigem finanziellem Wert, waren ferner ein zerschlissenes, seitlich ausgefranstes und blutverschmiertes Wams, ein Paar mit Kaninchenfell gefütterte, von Schorf übersäte Handschuhe (den kostbaren Luchspelz muss er verkauft haben), ein Flusskieselstein mit einem Muschelabdruck, eine Handvoll Münzen aus einem fremden Land und ein Stapel Briefe uns unbekannter Personen. Zu keiner Zeit wussten wir, was Zuane umgetrieben haben mochte. Und welchen Liebschaften er auch gefrönt haben mag, geheiratet oder eine Gespielin hatte er nicht. Keine Frau hat das Erbe je eingefordert oder für ein gemeinsames Kind verlangt. Giovanni hat nichts als seinen eigenen Ruin erzeugt.
    Weder in der Bestandsliste noch in der Kiste befand sich seine Laute. Zuane hatte sie also nicht behalten. Dann war er wohl auch kein Musiker gewesen. Im Lederkoffer aber - unter dem doppelten Boden, der dem Notar verborgen geblieben war - fand ich die Mappe mit seinen Bildern. Nicht eines davon hatte er verkauft. Einhundertfünfzig Zeichnungen - Skizzen, Torsi, Beine, Gesäße,
Schultern, mit Feder, Stift und Kohle. Ich erkannte zahlreiche Figuren meiner Bilder wieder - die Lakaien, Dienstmägde und Philosophen; Gegenstände, die wir Dutzende Male gemalt hatten - die Silberkrüge, Kandelaber, Feuerschalen, Körbe, sogar die Äpfel und Rosettenbrötchen. Ich fand Nachbildungen meiner Arbeiten: Erwachsene, die ich gemalt hatte, als er noch gar nicht auf der Welt war, mythologische Szenen, Kreuzigungen, Fußwaschungen, die er als kleiner und heranwachsender Junge und später als Mann jahrelang - und getreu - vorgezeichnet hatte. Ich erkannte sogar Zuane selbst wieder: Er hatte sich von meinen Zeichnungen abgemalt, auf denen er als Akt in der Pose des auferstehenden Lazarus, als Sankt Laurentius über dem Feuer oder als entblößte und vergewaltigte Lucrezia abgebildet ist - er war sowohl mein männliches als auch mein weibliches Modell gewesen.
    Zuanes so unverhoffte Ergebenheit bewegte mich sehr. Seine Hand hatte der meinen nichts hinzugefügt. Er hatte sich darauf beschränkt zu reproduzieren. Mit Sorgfalt. Und genau. Mehr als genau. In diesen Bildern lag der zögerliche Keim seines Talents. Ein Talent, das nie zu reifen, noch sich zu befreien oder auszudrücken vermochte. Verfehlt - wie sein Leben. Bis heute weiß ich nicht, ob Zuane mir diese Bilder als höchsten Beweis seiner Treue oder als Preis des Verrats hinterlassen hat. Ob sie mir von jenseits der Grenze, die uns voneinander trennt, huldigen oder ob sie mich anklagen und mich zu einer Strafe verurteilen, die mir nie erlassen wird. Noch immer denke ich darüber nach, wenn ich im Dunkeln auf der Matratze liege und am ganzen Leib friere, in der Brust ein welkes Herz. Aber ich finde keine Antwort.
    Mein lieber Dominico sammelte die Blätter ein und steckte sie zurück in die Ledermappe. Er bat mich, die Zeichnungen im Andenken an seinen Bruder aufbewahren zu dürfen, was ich ihm nicht versagte. In ihnen hätte ich Giovanni ohnehin nicht wiedergefunden. Einzig in seiner Abwesenheit - dort, wo sich mein Sohn versteckt hatte -, in dem, was er nicht sein wollte, erkenne ich
ihn wieder.«Das ist alles, was mir von Zuane bleibt», murmelte Dominico,«wir wissen nicht einmal, wo er beerdigt worden ist.»In diesem Moment beschloss ich, ihn in die Totenkapelle von San Giorgio Maggiore auf die Insel zu bringen, die Venedig gegenüberliegt - und nach der sich die Stadt von jenseits des Kanals für immer verzehrt. Die Grablegung Christi würde die Beerdigung und das Grab sein, das ich ihm nicht habe bereiten können. Christus ist mein Sohn, und ich habe ihn nicht getötet. Aber ich habe ihn auch nicht gerettet. Am Tag, als ich von Marietta Abschied nahm, habe ich mit diesem Gemälde begonnen. Für Zuane brachte ich es zu Ende.
     
    «Wie Ihr seht, Maestro, ist die Kapelle fertig, die Bauarbeiten sind eingestellt, und der Putz ist trocken. Wann werden wir die Freude haben und die Grablegung unseres Herrn bekommen?», fragte mich der Prior in liebenswürdigem Ton und in der Befürchtung, ich käme

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