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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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nun zum wiederholten Mal, um den Termin zu verschieben. Was durchaus verständlich war: Unter dem Vorwand, das Bild noch einmal überarbeiten zu müssen, schob ich seit einem Jahr die Abgabe immer wieder hinaus. Ich schaffte es einfach nicht, mich von ihm zu trennen, doch nun war endlich der Moment gekommen.«Es ist hier!», gab ihm Dominico mit Hinweis auf das noch verpackte Bild zu verstehen.«Der Maestro möchte es noch heute an Ort und Stelle betrachten können.»«Heute?», entgegnete der Prior besorgt.«Das war nicht eingeplant, die Arbeiter sind noch im Presbyterium beschäftigt.»«Ich werde warten», sagte ich,«ich habe sowieso nichts mehr zu tun.»
    Während der Prior loseilte und den Mönchen die erfreuliche Nachricht überbrachte, löste Dominico die Knoten, zerlegte den Holzkäfig und enthüllte das Bild. Jeden Tag hat er mich in den vergangenen Monaten an diesem Bild arbeiten sehen. Da ich den Eindruck machte, es nicht beenden zu können, bot er mehrere Male an, es für mich zu übernehmen. Aber ich ließ ihn lediglich bei ein
paar Figuren gewähren. Die Grablegung gehörte mir. Dieses Bild ist ein Zwiegespräch, in dem Dominico nichts mitzureden hatte: Es ist meine persönliche Aussprache mit meinen geliebten, verlorenen Söhnen - und mit dir.
    «Wie bleiern es ist, Vater!», rief er. Im Halbdunkel der Totenkapelle schienen die rot, blau und orange umhüllten Figuren zwar beinahe zu leuchten, dennoch überschattete sie eine kränkliche Atmosphäre. Nur vom Körper des toten Christus ging ein helllichter Glanz aus. Dominico kann es nicht verstehen. Er ist jung, mag die Klarheit in den Dingen und die Harmonie der Farben. Es kann sein, dass er, wenn er nicht mehr mein Sohn sein muss, ein wahrhaft glücklicher Mann sein wird. Es kann aber auch sein, dass er es nicht schafft, etwas anderes zu werden.
    Die Mönche drängten sich in die kleine Kapelle, viele knieten nieder. Einer berührte und küsste Christi Füße, ein anderer weinte. Sie fanden das Bild von Schmerz erfüllt - von einer nahezu unerträglichen Trauer befallen. Stehend oder an die Wand gelehnt, blieben sie bei uns, während die Arbeiter - unter Marcos Anleitung - das Bild in den Rahmen spannten und in die Nische einpassten. Selbst als die Glocke sie ins Refektorium rief, rührten sie sich nicht von der Stelle. Der Prior nutzte den Moment, die Mönche daran zu erinnern, welch außerordentliche Ehre es sei, dass Tintoretto für sein letztes Werk die bescheidenste und unbedeutendste Kapelle ihrer Kirche ausgesucht habe. Er bezeichnete mich als Apelles’ wahren Erben, als Genie des Lichts, des Schattens, der Gesten und Gefühle, als den größten Maler des Jahrhunderts, den, der das Erbe Tizians und Michelangelos geerntet habe. Für die Lobrede an meiner letzten Ruhestätte hätte er keine großmütigeren Worte finden können.
    In meinem Herzen verspürte ich jedoch keine Freude, Herr. Die Eitelkeit ist eine Versuchung, der ich zu widerstehen wusste. Derartige Belobigungen hätten mich siebzig Jahre zuvor erfreut, als ich sie mir so sehnlichst erhoffte, dass ich alles gegeben hätte,
damit irgendjemand sie aussprach. Doch damals bekam ich nur hasserfüllte Kritiken voller Spott zu hören. Üble Beschimpfungen vom letzten Pinselschmierer der Malerzunft, der das Recht zu haben meinte, über mich urteilen zu dürfen. Man nannte mich einen Stümper, gerade gut genug, um den Pöbel zu unterhalten. Man behauptete, ich sei pathetisch, wirr, ich hätte zu viel Phantasie, sei überschwänglich, aufgebläht, schludrig und schlampig - ich könne nicht zeichnen, nicht kolorieren, kein Ende finden. Kurzum, ich könne nicht malen.
    Da meine Bilder trotzdem Gefallen fanden - im Lauf der Jahre trafen sie sogar auf immer größeren Zuspruch -, machten sie meinen persönlichen und den Wert meiner Gemälde nieder. Sie warfen mir vor, ein Handwerker geblieben zu sein, zwar geschickt, doch ohne eine Vision von der Welt und ohne Verstand. Eine Werkstatt eröffnet zu haben, die eher etwas von einer Färberei, einer Fabrik oder einem Zeughaus hatte, was sich für einen edlen Malerbund nicht gehörte. Eine Politik niedriger Preise verfolgt zu haben, die allen Malern geschadet und aus der Malerei ein Gewerbe gemacht habe. Genau das Gegenteil ist jedoch der Fall. Ich habe ihre Sicherheiten ins Wanken gebracht, ihr System sabotiert, mich ihrem Horizont verweigert. Da es das Kapital ist, das unsere Gesellschaft vorantreibt, gehen sie davon aus, dass auch die Kunst nichts

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