Tintorettos Engel
einzureden, dass es eine Halluzination gewesen sei, verursacht durch das zehrende Fieber und die Appetitlosigkeit, die meinen Verstand beneble. Doch ich habe sie gesehen, Herr. Nur deshalb schloss ich, als ich wieder zu Hause war, die Fensterläden, zündete alle Kerzen an, legte mich ins Bett und flehte dich an, mich zu erhören.
Auf dem gekräuselten Wasser, dieser Ansammlung fauliger Fasern, sah ich mit derselben Deutlichkeit, mit der ich das Spiegelbild meiner über den Schiffsrumpf gebeugten Söhne sah, den
Körper eines Menschen schwimmen. Nur vage zeichnete er sich als ein Frauenkörper ab. Aber, Herr, ich wusste, dass es eine Frau war. Die Wellen trieben sie immer wieder auf. Wenn sie untergetaucht war, kam wenig später erst ein Bein an die Oberfläche, dann eine entblößte Schulter und die Brust. Um den Hals wellte sich ein weißer Stofffetzen. Der Körper war sowohl grün wie die Algen als auch bleich wie Seife und verströmte dengleichen beißenden Geruch wie die Lagune an heißen, schwülen Tagen. Ihr blondes Haar hatte sich auf dem Wasser zu einer Krone um sie herum ausgebreitet. Es war La Tintoretta. Aber nicht die andere. Meine.
Ich schloss die Augen, aber als ich sie wieder öffnete, war sie noch immer da - und verfolgte mich. Der Regen strömte auf uns nieder. Dominico schob mich vorsorglich unter die Abdeckung. Dreißig Jahre zuvor wäre ich es gewesen, der ihn vor dem Sturm in Schutz gebracht hätte, heute ist es umgekehrt. Aber ein Sohn kann seinen Vater nicht retten. Das ist nicht seine Aufgabe. Seine Aufgabe ist es, ihn zu überleben. Dafür ist er erschaffen worden. Dominico versuchte, den Vorhang geschlossen zu halten, den ihm der Wind immer wieder aus der Hand riss, und schaute vor uns ins Wasser, erleichtert, dass er im Becken von San Marco nichts weiter als Erdklumpen und von der Strömung mitgerissene, verfaulte Algen erkannte.«Mach dir keine Sorgen, liebster Vater», beschwichtigte er mich,«da ist kein Körper.»Er konnte ihn vielleicht nicht sehen. Ich aber schon, ich wusste, dass er da war, an meiner Seite, wo er für immer sein wird.
23. Mai 1594
Siebter Fiebertag
Der getrocknete Mohn hat mich über viele Stunden hinweg in Frieden ruhen lassen. In dieser endlosen Nacht begegnete ich nicht einmal mir selbst. Mit unbeschreiblicher Erleichterung löste ich mich von allem. Als ich die Augen wieder öffnete, stand Faustina mit einem jungen Kerl im großen Wohnzimmer. Er war breit, robust, trug einen schwarzen Mantel, der am Hals von einem grünen Seidenschal geschlossen wurde, hielt einen Filzhut in der Hand, und aus seinen Haaren lugten zwei spitze Segelohren hervor. Schlagartig ließ die Wirkung des Mohnpulvers nach. Es war erneut Tag.
Ich richtete mich auf. Vor lauter Erschöpfung wurde mir übel.«Er würde dir gern guten Tag sagen», flüsterte Faustina, die den Unbekannten, der mit offenem Mund unsere Galerie bestaunte, im Wohnzimmer stehen gelassen hatte.«Er steht unmittelbar vor der Abreise. Eine ungehörige Nervensäge ist er, ich habe ihm gesagt, dass es dir nicht gut geht, aber er lässt nicht locker, ich hätte auch Latein reden können, schick du ihn weg.»«Wer ist es?», fragte ich sie, während ich mich taumelnd zum Krug schleppte, Wasser in die Schale kippte und mein Gesicht wusch.«Wie, du erkennst ihn nicht wieder?», fragte Faustina verwundert,«das ist Iseppo!»
Als ich ihn das letzte Mal sah, hatte er noch Pickel im Gesicht und kaum Haare auf der Oberlippe. Inzwischen ist er älter als zwanzig. Auch ihn habe ich aufwachsen sehen - er war in gewisser Weise ein Teil unserer Familie. Doch diese Familie ist auseinandergebrochen. Auch Iseppo ging weg. In Wahrheit konnten wir
uns ab einem gewissen Punkt nicht mehr ertragen, da jeder etwas wusste, was der andere vergessen wollte.
Ich legte mich wieder ins Bett und empfing ihn im Schlafzimmer. Der Boden unter meinen Füßen schien wie ein Landungssteg zu beben, und mir war, als stolperte ich über eine wackelige Oberfläche, die kurz davorstand, sich aufzulösen. Iseppo verbeugte sich ehrfürchtig und erkundigte sich nach mir, Maestro Dominico und meinem grässlichen Fieber. Er sei unserem Haus verbunden geblieben - ohne ein leichtes Herzklopfen habe er nie unter diesen Fenstern vorbeilaufen können. Ich fragte, wie es ihm gehe, denn es waren schwierige Zeiten für junge Leute, die etwas Eigenes auf die Beine stellen wollten, die Ausgaben überstiegen die Einnahmen, viel bekam man nicht mehr für sein Geld. Iseppo
Weitere Kostenlose Bücher