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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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können. Dabei musste ich doch mein Wort halten und das Versprechen wahr machen. Ich musste auf Marietta verzichten. Ein anderer Mann werden. Mich von meinem früheren Selbst so entfernen, als verließe ich ein fremdes Land. Zu dir musste ich zurückkehren. Dies ging mir durch den Kopf, als sich
Marietta vor eine Ölpfütze kniete und in golden schimmernden Matsch fasste, der an ihrem Finger kleben blieb.
    Ich ging dicht an der Wand entlang. Mein Jüngstes Gericht hatte sich in Asche aufgelöst und nur einen Schatten als Abdruck von sich hinterlassen. Nicht eine Figur von dieser riesigen Leinwand war übriggeblieben. Wie unglaublich zerbrechlich doch die Dinge sind, in die wir die große Hoffnung legen, unserem Leben eine Bedeutung geben zu können. Denn alles ist vergänglich, Herr - außer dir. Marietta las ein paar verkohlte Schnipsel vom Boden auf, auf denen jedoch nichts mehr zu erkennen war.«Ich male es noch einmal, und dann wird es noch gewaltiger werden, Jacomo», sprach sie mir Mut zu. Sie glaubte, mich trösten zu müssen.
    In dem Moment sagte ich es ihr. Ich wusste es bereits seit Monaten - doch ich hatte ihr die Nachricht immer wieder unterschlagen. Ich hoffte auf irgendein Ereignis, das sie hinfällig machte und wie nass gewordenes Pulver, das nicht mehr explodieren kann, entschärfte.«Der Kaiser hat dein Portrait gewürdigt und bedankt sich dafür.»«Ist das eine deiner gut gemeinten Lügen, Papa?», fragte sie mich - aber ich schwor, es sei mein voller Ernst. Ihre unbeschwerte Freude zwang mich fortzufahren. Wer nicht malt, wer nicht schöpferisch tätig ist, wird nie verstehen können, was es bedeutet, Anerkennung zu bekommen, zu wissen, dass der Pfeil, den wir ins Leere geschossen haben, nicht vor unseren Füßen gelandet ist, sondern die Zielscheibe getroffen hat.«Er findet dein Talent einzigartig. Dass auch Frauen so weit kommen, habe er sich nicht vorstellen können. Noch nie habe er eine Malerin von solcher Bedeutung kennengelernt. Er hat dich an seinen Hof geladen. Er wird den Winter in Augsburg verbringen.»«Wo?», fragte Marietta.«Augusta, Augsburg, in Deutschland.»«Mich?», rief sie und lief rot an.«Mich hat er eingeladen?»
    Im Dogenpalast konnten wir nichts mehr ausrichten. All das, was die Wände dieses vom Brand zerstörten Flügels verschönert hatte - Bilder von mindestens drei Generationen venezianischer
Maler -, war verloren. Katastrophen bringen jedoch auch Chancen mit sich. Bald würde es für sämtliche Maler Venedigs Arbeit geben. Abriss oder Restaurierung, der Dogenpalast würde neu errichtet werden müssen. Alles musste neu gemacht werden - und groß, um zu beweisen, dass wir nach wie vor eine wichtige Republik waren, die Kriege, Pest, wirtschaftliche Einbrüche und Brände nicht in eine Provinz verwandeln und an den Rand der Welt verbannen. Zehn, ja vielleicht fünfzehn Jahre würde diese Wiederherstellung sicherlich brauchen. Die Zukunft meiner Söhne war gesichert.
    Marietta aber würde nie für den Dogenpalast arbeiten können. Von einer Frau akzeptieren Auftraggeber einzig und allein Portraits, doch die, so Marietta, seien ohnehin das Einzige, was sie malen wolle.«Lediglich Menschen sind der Mühe Wert. Alles andere ist Geschichte, die ich nicht kenne, und Übung, von der ich nicht genug besitze. Im niedersten Geschöpf das unendliche Universum zu suchen, dessen werde ich niemals müde. Ich erwarte von mir, dass ich das Merkmal, das jeden zu etwas Besonderem macht, und die Empfindung, die er mit allen anderen gemein hat, einfange und wiedergebe. Erinnerst du dich? Du warst es, der mich das lehrte. Einen echten Menschen zu malen, wen auch immer - nicht eine Figur aus der Mythologie oder Religion -, verleiht dir eine Verantwortung, die mit nichts zu vergleichen ist. Letzten Endes sind wir es, die ihre Schönheit erfassen, und das bedeutet auch ihre Wahrheit. Wir erwecken sie zum Leben. Der gewöhnliche Mensch existiert nur, weil jemand ihn portraitiert hat.»
    In der Zwischenzeit war der Nebel so dicht geworden, dass wir kaum die Gassen erkennen konnten. Verloren liefen wir durch eine Art weißes Nichts, in dem die Geräusche gedämpft zu uns drangen, die Wege alle gleich aussahen und die Umgebung nicht zu erkennen war. Wir befanden uns zwar an den gewohnten Stellen, aber auch gleichzeitig woanders - in einer verschobenen, ausgehöhlten Welt, die nicht mehr unserer entsprach. Und möglicherweise stimmte es sogar, dass wir nicht mehr in Venedig waren.
Marietta ging

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