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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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Onkel Comin im Alter von fünfundachtzig Jahren eine vierzig Jahre jüngere Witwe, Franceschina Steiner, und erklärte sich bereit, Marietta eine Mitgift auszuzahlen, mit der einer aussichtsreichen Vermählung seiner geliebten Nichte nichts mehr im Wege stand.
    «Du darfst sein Geld nicht annehmen», empörte sich Marietta.«Er ist ein Spitzel, Erpresser, ein professioneller Lügner, ein wahrer Denunziant. Ich hasse seine Falschheit, und die kleinste Berührung ekelt mich an. Seine Finger sind grob wie Holz. Hunderte von Unschuldigen hat er in der Folterkammer gequält. Kinder hat er ausgepeitscht, und Frauen, die aus Not ein anstößiges Leben führen mussten, hat er die Arme gebrochen und die Füße verbrüht. »«Gerade deswegen musst du das Geld nehmen», redete
Faustina auf sie ein.«Wenn er es dir geben wird, damit du ein gutes Leben führen kannst, wird all das Leid nicht umsonst gewesen sein.»
    Wieder einmal wurde ich mitten in der Nacht an Comins Krankenbett gerufen. Er hatte bereits die Letzte Ölung bekommen. Auf der Treppe flüsterte mir die geschwätzige Angela ins Ohr, dass der Onkel sein Testament erneut geändert und mich als Alleinerben eingesetzt habe: Er hinterlasse mir das Haus von San Cassan und ein Anwesen auf dem Land bei Padua. Oben in den Gemächern traf ich auf einige Vettern, die es auf das Erbe abgesehen hatten und mich äußerst feindselig empfingen, außerdem auf die zweite Gemahlin des Onkels, Signora Steiner, eine Frau mit stahlgrauem Haar, die mich zornerfüllt anschaute, da ich sie um etwas betrogen hatte, auf das sie Anspruch zu haben glaubte, und einen hübschen jungen Mann mit blasser Haut und braunem Haar, den ich noch nie zuvor gesehen hatte. Er wurde mir als Marco aus Augsburg vorgestellt und war ein entfernter Verwandter der Signora Steiner. Nach der Vermählung des Onkels war er zur Miete in dessen Wohnung gezogen und wohnte dort mit Bortolo, dem Sohn der Steiner - ein rauflustiger, gewalttätiger junger Nichtsnutz, der bereits zweimal im Gefängnis gesessen hat. Verhaftet ausgerechnet von meinem Onkel.
    Wir saßen vor dem Kamin und warteten, dass der Alte starb. Irgendwie kamen wir ins Gespräch.«Bist du Deutscher?», fragte ich ihn.«Das war ich», antwortete Marco aus Augsburg. Ich erwiderte, dass man nie aufhören könne, das zu sein, was man ist, woraufhin er mit den Schultern zuckte und meinte, dass die Menschen doch keine im Boden verwurzelten Bäume, sondern wie Wolken oder vom Wind verwehte Samen oder auch Schiffe seien, die über die Meere segelten, und dass das, worauf es ankomme, nicht der Geburtsort sei, sondern der Ort, den wir uns zum Leben ausgesucht haben. Ich wollte wissen, ob er jemals von einem Drucker namens Corrado Elbich oder so ähnlich gehört
habe. Im Jahr 1530 habe er eine Bibel auf Deutsch gedruckt. Eine luxuriöse Ausgabe mit einem Holzschnitt der Hiobsgeschichte.
    Marco aus Augsburg oder Augusta oder wie, zum Teufel, der Steiner sich auch nannte, zuckte mit den Schultern und meinte, er arbeite bei Ludwig, Joachim und Christoph, allesamt Goldschmiede der Gilde Insegna della Virtù. Über Schmuckstücke könne er sich daher bis zum nächsten Morgen unterhalten, von Büchern habe er dagegen kaum Ahnung. Er sei zwar in der Stadt der Bankiers aufgewachsen, habe aber zeitlebens von Venedig geträumt; denn seine Eltern, die ihre Jugend in Venedig verbracht hätten, erzählten ihm immer von der Stadt mit ihren vielen Schätzen, in der sie jedoch nicht Fuß fassen konnten. Der ältere Bruder Hieronymus sei mit sechzehn Jahren weggegangen und erst vor Kurzem in Venedig gestorben. Als er selbst alt genug gewesen sei zum Arbeiten, sei er seinem Bruder gefolgt. Er denke nicht im Traum daran, wieder zurückzugehen. Er werde Venedig nicht eher verlassen, bis er es unwiderruflich erobert habe.
    Aus dem Zimmer des Alten drang ein Röcheln, ein unheilvolles Pfeifen, das wie der Ruf eines Vogelfängers klang. Da sagte Marco Augusta, dass es ihm leidtue, aber er hoffe, dass Comin es auch dieses Mal schaffe. Er habe den alten Griesgram lieb gewonnen.«Mein Vater ist tot, mein Bruder auch, Bortolo ist für fünf Jahre verbannt worden, und meine Meister verbringen den März in Mailand, ich habe sonst niemanden in Venedig.»
    Der Onkel schaffte es auch dieses Mal und schrieb sein Testament um. Doch viel schrecklicher war die Tatsache, dass er mit neunzig Jahren die - seiner Meinung nach - stark gealterte Franceschina Steiner vor die Tür setzte, da sie ihm nicht mehr

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