Tintorettos Engel
und Freunde waren in ein Kartenspiel vertieft und scheinbar so weit von mir entfernt, als hätte ich sie bereits vor ewigen Zeiten verlassen. Ohne Lampe stieg ich hinunter in mein Atelier. Für eine Sekunde, die ich in dem durch den Türspalt dringenden Lichtstreifen stand, fiel ein Schatten auf mich. Eine Gestalt schien über mich herfallen zu
wollen. Erleichtert dachte ich, sie wäre endlich zurück. Ich bin überzeugt davon, dass sie, wenn überhaupt, dann geflogen kommt. Aber natürlich war es nur der Wachsengel gewesen, der seit über fünfundvierzig Jahren von der Decke hängt und beim kleinsten Windhauch zu baumeln beginnt; aber der hat ja keine Flügel mehr, kann also gar nicht fliegen. Ich bahnte mir einen Weg durch den vollgestellten Raum, der einer verlassenen Rumpelkammer glich. Zwischen den im Dunkeln herumstehenden Gipsfiguren hatte ich den Eindruck, durch einen versteinerten Wald zu laufen.
Ich setzte mich vor das Portrait. Aber nicht einmal anschauen konnte ich sie, Herr. Ich werde keine Fackel mehr für sie anzünden lassen. Marietta wird nicht wiederkommen. Dieses lange Warten wird nie ein Ende haben. Den Anblick des melancholischen Juweliers kann ich nicht mehr ertragen, ich möchte ihn nicht mehr sehen. Ich werde ihn aus meiner Familie streichen - als hätte es ihn nie gegeben. Seine Anwesenheit macht mich krank. Sein mattes Gesicht, seine Kaltherzigkeit, seine überkorrekte Art, sein artiger Gehorsam sind schlimmer als die Laster, an denen es ihm mangelt. Wie habe ich ihn nur jahrelang hier in meinem Haus ertragen, ihn jeden Tag sehen und seine Gespräche mitanhören können? Er ist so kalt und gefühllos wie die Steine, deren Geheimnisse er zwar kennt, denen er aber nicht den geringsten Schimmer zu entlocken vermag. Wie habe ich nur seine Verehrung ihr gegenüber mitansehen können, in dem Wissen, dass sie in keinster Weise das wiedergutmacht, was geschehen ist.
Ich sehnte mich danach, mit Marietta zu sprechen, ihre zarte Stimme zu hören, die alles abstreitet und mir versichert, dass unser Juwelier der beste Ehemann für sie gewesen sei, ein großzügiger und verständnisvoller Begleiter, dass sie sich nie einen anderen gewünscht habe. Aber ihre Stimme sprach nicht zu mir, Herr.
Ich schaute Marietta in ihrem vergoldeten Rahmen an - sie steht vor der Tastatur unseres Cembalos, das noch immer oben
im Wohnzimmer steht. Blasses Gesicht, glühendrote Wangen, unergründlicher Gesichtsausdruck, um den Hals die Perlenkette, die sie, seitdem der Juwelier sie ihr schenkte, kein einziges Mal abgenommen hat. In der linken Hand hält sie vor ihrem weißen Kleid die Noten, die sie soeben gehört hat. Ein Madrigal meines geliebten Verdelot, das mir so viel Freude beim Singen bereitete. Madonna per voi ardo - Signora, ich liebe Euch. Seid nicht so grausam. Und Madonna per voi ardo ist auch auf der Partitur zu lesen. Doch sosehr ich auch meinen getrübten Blick auf die Noten richtete, ich konnte einfach nicht erkennen, wie es weiterging, Herr.
In dieser schrecklichen Nacht, die ich in meinem Atelier verbrachte, da ich weder schlafen noch mich von diesem Bild losreißen konnte, fiel mir zum ersten Mal auf, dass die Worte, die Marietta auf die Partitur in dem Portrait geschrieben hat, nicht die gleichen sind wie die, die der Komponist vertont hat und die in dem Band abgedruckt sind, den ich dreißig Jahre lang aufbewahrt und ihr schließlich geschenkt habe - sondern dass es ganz andere sind, die sie mit ihrer Pinselspitze auf die Leinwand getupft hat. Eine verschlüsselte, geheime Botschaft in einer Sprache, die wie eine Geheimschrift aussieht. Das ist ihr Zettelchen, das sie nicht zusammengerollt in den Wunschkrug gesteckt, sondern in dieser Form verwahrt hat - offen und gegen sich gedrückt -, besorgt, weil sie sich nie sicher war, ob sie jemals den Mut besessen hätte, es hineinzustecken, und ich den Mut, es zu lesen. Und nun schaffte ich es nicht, ihre Worte zu entziffern.
Ihre Hochzeit fand an einem heißen Morgen im August in einer verlassenen Kirche auf einer Insel in der Lagune statt, wo wir beide von den neugierigen Blicken der Venezianer verschont blieben. Sie trug ein weißes Seidenkleid mit goldenen Stickereien. Es war eine schlichte, aber bewegende Zeremonie. Kein Gast, von der Familie lediglich Dominico. Ich tat nichts außer zu lächeln, die
Hände der Mönche zu schütteln und meine väterliche Freude nach außen zu kehren. In Wahrheit tat mir alles weh - Beine, Magen, Augen und auch die
Weitere Kostenlose Bücher
Die vierte Zeugin Online Lesen
von
Tanja u.a. Kinkel
,
Oliver Pötzsch
,
Martina André
,
Peter Prange
,
Titus Müller
,
Heike Koschyk
,
Lena Falkenhagen
,
Alf Leue
,
Caren Benedikt
,
Ulf Schiewe
,
Marlene Klaus
,
Katrin Burseg