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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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Kinder lehrte ich moralische Kategorien, damit sie stets das Gute vom Bösen unterscheiden können. Denn das kann man weder aus Büchern lernen noch in den Geboten nachlesen, die ich von ihnen ohnedies einzuhalten verlangte. Ich lehrte sie, sich ein Leben lang Tag für Tag sagen zu können: Ich habe nie etwas getan, was meiner nicht würdig ist.
    Ich habe wirklich versucht, ein tadelloser Mensch zu werden. Die materiellen und geistigen Sorgen, die mich jahrzehntelang gequält hatten, waren verflogen: Endlich konnte ich mich nur noch dem widmen, was Bestand haben würde. Ich bot der Welt meine beste Seite, Herr. Und zwar die, auf die es ankommt. Die andere, die mich von anderen ununterscheidbar macht, schien mir weder Wirkung noch Gewicht oder Bedeutung zu haben. Würde sie doch mit mir verschwinden.
    Vor langer Zeit hatte ich mich zur Anfertigung sechs großer Gemälde mit den Legenden der heiligen Katharina für die große Kapelle der gleichnamigen Kirche verpflichtet. Sie liegt am Rand unseres Stadtteils, zwischen den eleganten Palazzi von San Felice und den Sümpfen, Stränden und Feldern, auf denen die Kinder Ball spielen. Die Kirche war mir sehr ans Herz gewachsen, war ich doch jahrelang frühmorgens, wenn ich bei Cornelia aus dem
Haus trat, trunken vor Glückseligkeit an ihr vorbeigelaufen. Die Nonnen des benachbarten Klosters wollten den Legendenzyklus der Heiligen so vollständig, wie ihn auch die Kinder kannten: Katharinas Begegnung mit Kaiser Maxentius und die Weigerung, heidnische Götzenbilder anzubeten, das mit Bekehrung endende Streitgespräch mit den gelehrten Philosophen aus Alexandria, die Geißelung an der Säule, der Kerker, in dem ihr die Engel die Wunden salben, das grausame Martyrium auf den Rädern, das durch Einschreiten eines Engels fehlschlägt, und schließlich der Gang aufs Schafott und ihre Enthauptung. Der Vertrag war seit Jahren überfällig, dem Zyklus schien das gleiche Schicksal wie den vielen anderen unangetasteten Projekten zu blühen. Da ich in meiner Jugend einige Geschichten von der heiligen Katharina gemalt hatte, faszinierte mich die Figur der intellektuellen Jungfrau und Märtyrerin nicht mehr genug, um mich erneut mit ihr zu beschäftigen. Für mich zählten nur noch die Arbeiten für die Rochusbruderschaft. Zum ersten Mal malte ich weder für den Staat noch für einen Prinzen, noch für einen Kunden: Ich malte für dich, und es war, als malte ich für mich. Ich war frei.
    Meine Söhne arbeiteten hart. Im Morgengrauen standen sie auf und begannen für Stunden zu schuften. Ohne Lohn und Widerworte. Doch ein Meister muss sich bei seinen Gehilfen zu bedanken wissen. Er muss wissen, wie er sie anspornen, ermuntern, herausfordern kann. Die Legenden der heiligen Katharina schienen mir dafür geeignet zu sein. Ich erzählte ihnen von dem Projekt. In der Werkstatt stellten wir die Szenen nach und sprachen über die Figuren. Ich wollte nur die beiden letzten Gemälde des Zyklus malen - die dramatischsten Szenen der Folter und des Leidenswegs zum Hinrichtungsplatz - und betraute meine Söhne mit dem Rest. Jedem übertrug ich dieselbe Verantwortung. Dominico, Marco - und sogar Zuane, der erst vierzehn war und zu jener Zeit lediglich Paletten abkratzte, von mir entworfene Köpfe ausschnitt und auf unfertige Leinwände klebte: Da er sich
im Ausschneiden und Annähen sehr geschickt anstellte, nahmen ihn seine Brüder gern auf den Arm und nannten ihn Flickmarie oder Stickliesel.
    Auch Marietta gehörte der Truppe an. Ihr Gemahl hatte sich als so tolerant erwiesen, wie von mir erhofft. Die künstlerischen Fähigkeiten seiner Braut erfüllten ihn mit Stolz. Zur großen Entrüstung der Italiener vertrat er auf liebenswürdige Weise die Meinung, dass Frauen durchaus Admiral und Heerführer, Architekt und Bischof, Steinmetz und Doge werden könnten, wenn es nur von uns Männern geduldet würde. Ein einziges Mal fragte er sie in meiner Gegenwart, ob sie die gleiche Liebe für die Malerei aufgebracht hätte, wenn sie die Tochter eines Kürschners oder Fährmanns gewesen wäre.«Natürlich nicht», antwortete Marietta verdutzt,«ich liebe sie, weil Jacomo sie liebt. Weil sie unser Leben ist, was anderes kenne ich gar nicht.»Marco Augusta ließ alle seine Freunde bei ihr posieren. Er war glücklich, ihr Kunden für ihre Portraits besorgen zu können - vielleicht weil er hoffte, sie dadurch von der eigenen Suche abzuhalten. Doch die Atmosphäre in der Werkstatt behagte ihm nicht. Zu wissen, dass

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