Tintorettos Engel
und von ihr. Mein Hochzeitsgeschenk hängte Marietta ins Schlafzimmer neben das Bett. Nach ihrem Tod wollte Marco Augusta es nicht mehr behalten, aber auch ich ertrug den Anblick nicht. Daher brachte ich es in die leer stehende Wohnung zurück.
Mein Raum lag unter ihrem. Uns trennte nur eine Decke aus alten Holzbalken und ein Bretterboden. Marietta bekam alles von mir und ich alles von ihr mit. Ich hörte ihre Schritte über mir und
sie meine unter sich. Wenn sie oben das Fenster öffnete, flackerten die Kerzen auf. Ich hörte das Rauschen des Wassers, wenn sie sich wusch, und das Prasseln im Kamin. Durch den Rauchabzug gelangten ihre Worte und der Geruch nach Essen zu mir. Ich hörte heraus, wenn das Bett knarrte oder sich der Baldachin auch nur wenig verschob. Es ächzte und knarzte im Gebälk - genau wie meine Knochen, als wäre jemand darauf herumgetrampelt. Manchmal bekam ich sie tagelang nicht zu sehen: Wenn ich aber spät in der Nacht zu Bett ging und das Licht löschte, wusste ich, ob sie - über mir - noch wach war. Ich wusste, wann sie aufstand, wann sie sich auf der Matratze umdrehte, wann sie nicht einschlafen konnte und in ihr kleines Arbeitszimmer ging, um zu zeichnen, bis ihr der Kopf auf den Tisch fiel. So viele Nächte bin ich aufgeblieben, nur weil sie wach war - dort über mir. Mir war beinahe, als könnte ich sie atmen hören. Als würde ich unter ihr liegen - als hätte ich sie, streckte ich nur den Arm aus, berühren können.
Vom Tag an, als ich die Versuchung abgab, steckte ich all meine Energie in die Gemälde der Scuola di San Rocco. Meine Werkstatt stellte einen Tintoretto nach dem anderen her. In fast vierzig Jahren hatte ich Hunderte Figuren - Männer, Frauen, Madonnen, alte Leute, junge Leute, Diener, Soldaten - in allen nur erdenklichen Positionen gemalt. Tot, betend, schwebend oder ertrinkend, beim Abstellen eines Tabletts oder Werfen einer Lanze, während der Krönung oder Enthauptung, Geißelung oder Taufe. Unter Zuhilfenahme meiner Skizzen stellten meine Gehilfen die von den Auftraggebern verlangten Figuren einer von mir ersonnenen, entworfenen und vorgelegten Szene dar, die ich jedoch aus Zeitmangel nicht selbst aufs Papier bringen wollte oder konnte. Sie übertrugen die Originalfiguren auf die Leinwand: der eine, indem er sie aus dem Gedächtnis abmalte, der andere, indem er das Papier in Quadrate teilte und sie maßgerecht vergrößert auf dem
Leinen wiedergab. Der Dritte pauste sie auf ein Papier ab, indem er mit einer Nadel am Umriss entlang viele kleine Löcher einstach und anschließend das Papier über die Leinwand legte. Dann verstreute er Bleistiftpulver darüber, pustete einmal kräftig und wischte mit dem Finger das Graphit über die Löcher, durch die es auf die darunterliegende Leinwand drang. Wenn man dann das Papier wegnahm, kam auf der Leinwand der Umriss der Figur zum Vorschein. Die von mir gezeichnete Figur stimmte genau mit ihrem Schatten überein. Wer es gewohnt war, Fresken zu malen, befestigte die Leinwand und die Vorlage an der Wand und führte dann die Arbeit aus. Andere legten sich dagegen lieber beides auf den Boden.
Eines Abends überraschte ich Marietta, wie sie über einer mit Spannern auf dem Boden befestigten Leinwand kniete. Sie war barfuß, der Rock war ihr über die Knie gerutscht. Vorsichtig pustete sie das Pulver über die Einstiche im Blatt. Mit ihren Handflächen drückte sie es fest auf die Leinwand, auf der es sich abzeichnen sollte.«Wie bereitwillig die Fasern deine Zeichen annehmen, sieh nur, wie sie sie aufsaugen. Weißt du was?», fragte sie, ohne mich anzuschauen.«Sollte ich wiedergeboren werden, möchte ich gar nicht Königin oder Prinzessin sein, sondern eine Leinwand. Und zwar, um genau so berührt zu werden.»Behutsam nahm sie das Blatt Papier auf, und auf dem Stück Leinen erschien - blass, aber identisch - das Spiegelbild des Originals. Der dünne schwarze Umriss brachte sowohl die Fülle als auch die Leere meiner Zeichnung zum Vorschein - die Figur und ihr Schatten.«Wie froh ich wäre, wenn ich dich auf diese Art aufnehmen könnte», sagte sie,«wenn du so auf mir haften bliebest.»
26. Mai 1594
Zehnter Fiebertag
Ich bin durcheinander. Meine Gedanken kreisen alle um denselben Punkt. So wie mir die Erinnerung an unnütze Dinge verloren gegangen ist, würde ich gern auch die Erinnerung an Schmerz und Kummer vergessen. Ich wünschte, ein ganzer Teil von mir könnte vernichtet, ein für allemal ausgelöscht werden. Meine
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