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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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war, als hätten sie nicht einmal mein Kommen bemerkt. Doch überrascht stellte ich fest, dass Mariettas klarer Blick fest auf mir ruhte. Herr, es war, als hätte sie mich in einem Bordell erwischt.

    Marietta wäre nie auf die Idee gekommen, die Hüfte einer Statue zu verdecken. Die Akte in meinem Atelier brachten sie nicht in Verlegenheit, hatte sie sie doch schon tausende Male gezeichnet und von Kindesbeinen an mit ihnen gespielt. Von mir wusste sie, dass es nicht Vollkommeneres gibt als einen männlichen Akt. An jenem Morgen aber, obschon sich weder Dominico noch die anderen um die heikle Blöße des jungen Modells kümmerten, steckte Marietta den Pinsel wie eine Nadel in ihren Haarknoten und legte die Palette auf die Bank. Dann ging sie ans Podest und band sich das Tuch vom Hals. Andriana flüsterte ihr etwas ins Ohr. Marietta lächelte, zog sie zu sich heran und knotete ihr das Tuch um die Scham. Mit Verwunderung stellte ich fest, dass die beiden ziemlich vertraut miteinander umgingen. Sie trugen denselben Namen. Hatten diegleiche Haarfarbe. Eine wollte die andere sein. Wer die eine nahm, träumte von der anderen. Das innige Verhältnis der beiden erfüllte mich mit großer Sorge.
     
    Denn ich kannte das junge Mädchen, Herr. Wer nicht. Ihr Aufenthaltsort war in ganz Venedig bekannt. Ich streite es nicht ab. Wer kann schon etwas vor dir geheim halten? Wie könnte ich es vor mir selbst geheim halten? Aber darum geht es nun nicht mehr. Was ich heute bereue, habe ich nun einmal getan, und da gibt es kein Zurück mehr.
    Seit wann sich Andriana wie meine Tochter nannte, weiß ich nicht. Bisweilen beschleicht mich sogar der widerwärtige Verdacht, dass es meine Idee war. Frauen wie Andriana übernehmen den Namen der Brücke, an der sie wohnen, oder des Berufs, den ihr Vater ausübt. Oder sie stehlen sich die Namen der berühmtesten Adeligen Venedigs, um Fremde zu veräppeln, die glauben, einer Cornaro, Gritti oder Venier beigewohnt zu haben. Andriana stahl sich meinen. Und den von Marietta. Alle nannten sie die Tintoretta. Aber auch meine Tochter nannten alle La Tintoretta. Nun weiß ich, dass jeder, der Andriana bezahlte, glaubte, mit Marietta
ins Bett gegangen zu sein. Es war ein verbrecherischer Schwindel. Ich aber konnte ihn nicht nur nicht verhindern, Herr, sondern fand ihn auch noch verführerisch.
    Tintoretta wohnte - mit einem slawischen Dienstmädchen, einer griechischen Freundin und einer Frau aus Trient, die ihre Mutter oder ihre Kupplerin oder beides war - auf der anderen Seite des Kanals, an dem auch ich wohnte. Die Fenster der im Verlauf der Jahrhunderte heruntergekommenen Hütte gingen direkt auf mein Haus. Die Vorhänge waren stets zugezogen - hin und wieder aber tauchte ein Schatten auf. Das war sie.
    Dieses Mädchen wusste alles über uns. Sie spähte uns regelrecht aus, Herr. Damals konnte ich mir das allerdings noch nicht vorstellen. Wenn ich an lauen Sommerabenden mit meinen Kindern in der Loggia spielte - die Fenster weit geöffnet, um der Schwüle einen kleinen Luftstrom abzuringen -, saß Tintoretta im Dunkeln in ihrem Zimmer am gegenüberliegenden Ufer und beobachtete uns. Zum Vergnügen meiner Kinder warf ich mir einen Teppich über den Rücken, band mir, als wären es Höcker, Beutel auf Nacken und Kreuzbein und ließ sie auf mir kamelreiten. Kamele habe ich zeitlebens gemocht und gern gemalt, obwohl ich nie eines gesehen habe. Auf der Fassade des Hauses gegenüber Madonna dell’Orto, in dem ich als junger Mann wohnte, ist ein Kamel aus Marmor abgebildet: Dieses Tier wurde zu meinem Emblem. Aus einem Gespräch mit einem persischen Händler aus Baktrien erfuhr ich, dass Kamele intelligente Tiere sind, unermüdliche Arbeiter, die unglaubliche Strapazen und unsägliche Entbehrungen aushalten können. Die männlichen Exemplare werden von einem mächtigen Sexualtrieb beherrscht, der sich sowohl in einem hitzigen Beischlaf äußert, der häufig von wie Kriegsfanfaren klingenden Jubelgesängen begleitet wird, als auch in einer stürmischen Eifersucht auf die vielen Weibchen, mit denen sie sich umgeben. Darüber hinaus haben sie ein ausgezeichnetes Gedächtnis: Ein Kamel behält die kleinste Kränkung im Kopf und ist in der
Lage, zwanzig Jahre auszuharren, um dann bei all denen Rache zu üben, die es geschlagen, schlecht behandelt oder verhöhnt haben. Genauso bin ich. Wenn die asiatischen Philosophen recht haben - wie mir einst Marco Augusta erzählte - und wir in anderer Gestalt wiedergeboren

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