Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
Vom Netzwerk:
Art mit mir, dass ich mich lieber zurückhielt. Mein Widerstand hätte als das Eingeständnis einer Schuld verstanden werden können. Außerdem passte es mir in dem Moment ganz gut zu glauben, Marietta habe Andriana ausgesucht, damit ich nicht den Verdacht hegen musste, meine gerade mal zwanzigjährigen Söhne hätten bereits begonnen, kostspielige Freudenmädchen aufzusuchen. Ich erzog meine Kinder mit einer Strenge und Härte, die ich mir selbst erst gegen Ende meines Lebens auferlegt habe.
    Andriana erwies sich jedoch als ideales Modell. Sie hatte ein
natürliches Körpergefühl und stellte ohne Scheu oder Scham ihr Fleisch zur Schau - ohne Hintergedanken, wie mir schien. Geduldig probierte sie alle Kleider an, die meine Söhne nacheinander aus unserer Vorratstruhe hervorholten. Wie eine Marionette ließ sie sich ankleiden und ebenso fügsam wieder ausziehen und auf das Strohlager im Kerker drapieren - wo sie ja unbekleidet liegen musste. Ich hätte sie weder malen können noch wollen. Wenn dieses Mädchen sich einbildete, mich dazu zwingen zu können, ihr etwas von mir zu geben, so irrte sie sich. Selbst den kleinsten Kohlestummel hat meine Hand nicht angerührt, um sie zu skizzieren. Rein gar nichts. Denn mein einziger Schutz bestand darin, sie nicht zu einem Teil von mir werden zu lassen.
    So entledigte sich Andriana in jenem Herbst allmorgendlich hinter einer spanischen Wand ihrer Kleider, die sie auf einem Schemel zu einem Stapel auftürmte. In diesen Tagen glich das Haus Tintoretto wahrlich einem Seehafen: Das Ausmaß der zu bewältigenden Arbeit war dermaßen groß, dass ich zusätzlich zu meinen Söhnen fünf Gehilfen anstellte - obschon es mir nie behagte, wenn sich nachts in meinem Haus Fremde herumtrieben. Im Lauf des Vormittags schaute ich in der Werkstatt vorbei, um Aufgaben zuzuweisen, Zeichnungen zu begutachten, Ratschläge zu erteilen und Fehler auszubessern. Niemand kümmerte sich um die in der Mitte sitzende, nackte junge Frau. Sie war zu einem Gegenstand wie jeder andere geworden. Wie die Glaskelche, die Giovanni im Schneidersitz auf der Erde sorgfältig abzeichnete. Wie der Reitersoldat in Panzermontur für die Schlacht, den der Grieche Antonio in Angriff nahm. Wie die Folterinstrumente - die Haken und Ketten mit den Eisenringen -, die Marco noch einmal mit dem Pinsel überarbeitete. Wie die mit dem weißen Kleid voll goldener Schnörkel herausgeputzte Holzfigur, die Marietta auf die große, an der Staffelei befestigte Leinwand malte.
    «Steigt auf das Podest, Signora», sagte Dominico, woraufhin Andriana hinter der spanischen Wand hervortrat, um wie eine
räudige Hündin an ihm vorbeizuschwänzeln. Ihre blanken, wippenden Brüste leuchteten im schummrigen Licht der Werkstatt. Da Andriana für die Geißelung posierte, fesselte Dominico sie mit der rechten Hand hinter dem Rücken an die Säule.«Haltet die linke Hand nach oben», forderte er sie auf und stellte sich vor sie.«Ihr müsst sie so halten, als würdet Ihr eure Peiniger beschwören. »Während ich sie beobachtete, dachte ich selbstgefällig, dass Dominico - der von meinen Söhnen am widerwilligsten Maler werden wollte - letzten Endes die besten Fähigkeiten besaß, ein wahrer Künstler zu werden. Andrianas Reize ließen ihn kalt. Er wusste seine Triebe zu beherrschen und einen Körper nicht mit dem Schwanz, sondern mit dem Hirn zu betrachten.
    Obwohl alle Kohlenbecken in dem großen Raum glühten, kroch wegen der anhaltenden Regenschauer die Feuchtigkeit bis tief in die Knochen. Venedigs alles umschlingende, legendäre Feuchte - die den Putz durchtränkt, Metall zerfrisst, Türangeln rosten, Holz aufquellen und Eisengitter verfaulen lässt und Risse in den Mauern verursacht. Die posierende Frau zitterte vor Kälte. Auf dem Papier hatte die Szene bereits Gestalt angenommen. Dominico war dabei, die Schatten herauszuarbeiten. Mit bewundernswerter Disziplin hielt Andriana ihre linke, ausgestreckte Hand still, und als Marietta den Blick von der Holzfigur abwandte und auf den von Andriana traf, lächelte sie sie an. Manche Geschöpfe Gottes schaffen es, mit entblößter Scham, unbedecktem Flaum und vor Kälte verschrumpelten Brustwarzen inmitten von Dutzenden Männern, die sie versteinert anstarren, ungezwungen zu wirken. Meine Söhne waren derart in ihrer Arbeit versunken, dass nichts anderes zu existieren schien als das gräuliche Licht, das durch die Fenster auf den Körper und die herumstehenden Gegenstände fiel. Alles Materie. Mir

Weitere Kostenlose Bücher