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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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ausgesehen. Doch der Strom habe ihr das Kleid entrissen. Lediglich ein paar Stofffetzen seien noch um ihren Hals geschlungen gewesen, und ein Gerippe aus Walfischknochen habe wie ein Käfig ihre Taille umschlossen. Ansonsten sei sie nackt gewesen. Was noch mehr neugierige Leute angelockt habe.
    Einerseits sei es Tintoretta gewesen, andererseits nicht. Denn wenn die Seele aus uns herausfahre, ist der Körper nur noch eine namenlose Hülle, ein leeres Gewand. Nur die Haare, die hätten noch ihr gehört, hätten in der prallen Maisonne getrocknet und wie eine aufgeblähte Goldkrone um die Tote herumgelegen. Der Anblick sei derart grauenvoll gewesen, dass ihr schwindelig geworden sei.«Ihr Körper verströmte einen Geruch nach Meerwasser. Ihre Haare rochen nach Algen und Salz, Jacomo», flüsterte sie.«Da verstand ich, dass die Tote in Wirklichkeit ich war.»
    Herr, ich war wie versteinert. Nur allmählich begann ich zu verstehen, dass sich die junge Frau in die Lagune geworfen hatte. Und dass sie sich darüber bereits im Klaren war, als sie meine Dukaten nachzählte. Und ob ich das tun werde . Ich wollte Marietta trösten und gleichzeitig nicht mehr an die andere denken, an diesen Körper im Wasser und an der Brücke - den Blicken aller ausgesetzt. Damals wusste ich noch nicht, dass ich bereits da und bis zum Ende meiner Tage auf dem Schiff fuhr, das sie in den Tod steuerte, obschon ich in Wirklichkeit nicht dabei war. Ich legte Marietta meinen Arm um die Schulter.«Sie war so aufgequollen», klagte sie leise,«vielleicht war sie ja schwanger.»«Das Mädchen ist ertrunken, Marietta», entgegnete ich,«ihr Bauch muss voll Wasser gewesen sein.»Siehst du, Herr, ich habe nicht gelogen.
Meine Tochter aber erwartete von mir, dass ich die Anschuldigung abstritt, was ich nicht tat.«Wo warst du Samstagnachmittag, Jacomo? », wiederholte sie.«Ich war nicht auf Malamocco, Marietta», antwortete ich.«Und das ist weder eine meiner Lügen, noch habe ich mir das einfach so ausgedacht. Ich kann dir nichts anderes sagen.»
    Meine Tochter nahm für einen kurzen Moment mein Gesicht in ihre Hände. Ich verdiente weder ihr Mitleid noch ihr Verzeihen, und ich hoffte auch gar nicht darauf. Marietta legte ihren Kopf auf meine Schulter und versteckte ihr Gesicht unter ihren Haaren. Auch meine Tochter roch nach Algen und Salz. Ich bin es nicht würdig, an deinem Mahl teilzuhaben, Herr. Aber sei so gnädig und richte deine Augen auf diesen Schandfleck, der zu dir ruft, wirf diesen Lump, der dich betrogen hat, nicht weg, schick mir bloß ein Zeichen, einen Lichtschimmer, ein Zucken, sag nur ein Wort, und ich werde erlöst sein.
    Aufgewühlt blieben wir bis zu den Knöcheln im Wasser stehen, während der Abend langsam über die Lagune, den Sand und über uns hereinbrach.«Es ist zwar schrecklich, aber die Wege des Herrn sind unergründlich», sagte ich schließlich, um der Sache ein Ende zu setzen.«Und da Gott das höchste und vollkommenste Heil ist, ist alles, was von ihm kommt, gut zu nennen. Und alles, was unser geliebter Vater uns antut, geschieht um unser Seelenheil willen. Denken wir nun nicht mehr daran.»
    Marietta stieß mich weg. Sie ging ein paar Schritte vor, hob zwei große Steine auf und lief, ohne den Rock hochzuschlagen, ins Wasser.«Marietta!», rief ich ihr hinterher,«bist du verrückt geworden? Bleib stehen!»Sie sah mich nicht an, ging einfach weiter. Das Wasser umspülte bereits ihre Knie. Ich lief ihr nach und rutschte auf einem glitschigen Stein aus, der unter dem Schlamm auf dem Meeresgrund nicht zu sehen war. Dabei fiel mir der Geldbeutel aus der Hand. Überall lagen Münzen zwischen meinen Füßen im Wasser verstreut, aber im Abendlicht konnte
ich sie nicht mehr erkennen. Meine gesamten Dukaten habe ich aufgewendet, um meine Seele zu retten, dachte ich bei mir, ich habe versucht, mir Absolution und deine Gnade zu erkaufen. Sie dagegen hat es verstanden, das zu sagen, was ich bereits wusste, nämlich die Wahrheit, die mich mein Leben lang erhellt hat und die ich verraten hatte. Geld führt nur ins Leere. Geld geht unter. Aber diese Ungnade ist von der Vorsehung bestimmt gewesen - dieses ganze Leid wird sich zum Guten wenden, denn nichts geschieht, was du nicht willst. Meine Schuld, meine große Schuld. Aber dein ist das Reich. Und unendlich deine Güte.
    Marietta lief und lief, schleppte sich immer weiter vom Ufer weg. Sie drückte sich die Steine an die Brust und schwankte Schritt für Schritt durch das Wasser, das

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