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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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sie. Sie nahm meine Hand und drückte ihre Lippen darauf. Das war unsere letzte Berührung.«Maestro», fügte sie an,«ich lass dir deine Tintoretta. Aber vergiss nicht, dass sich Sonne und Mond zwar hinterherjagen, Tag für Tag, immer und ewig, doch fangen tun sie sich nie.»
     
    Einige Tage darauf saß ich, in eine Filzdecke gehüllt, mit dem Rücken zum Wasser auf einer Gondel. Der keuchende Gondoliere hinter mir krümmte und beugte sich, während sich über uns ein Gewitter zusammenbraute. Schon seit einer Weile hatten wir die Münzanstalt und danach San Servolo passiert. Die Wellen brachten uns jedoch vom Kurs ab, und anstatt dem Lido näher zu kommen, schien er mit jedem Ruderschlag weiter weg zu rücken. Es war Ende Mai, möglicherweise der gleiche Tag wie heute: Sicher bin ich mir allerdings nicht, denn zu welchem Zeitpunkt ich
was tat, hat mich nie gekümmert. Ich weiß nicht einmal mehr, an welchem Tag ich geboren wurde. Mir kommt es nicht darauf an, wo ich war oder bin, sondern wo ich in einhundert oder dreihundert Jahren sein werde. Sollte ich nirgends sein, werde ich das unnütze und unfruchtbare Leben eines Steins geführt haben. Unsere Schande ist nicht der Tod, sondern die Ewigkeit. Der Wind fegte über die Lagune, in der wir uns wie in einem zersprungenen Glas spiegelten. Die Gondel hatte die gleiche bedrohlich glänzende Farbe wie der Schild eines Skarabäus. Alles um uns herum wurde schwer und bleiern, der Himmel schien sich über uns zu verschließen. Ein schlechtes Vorzeichen sah ich darin jedoch nicht.
    Ich war auf dem Weg nach Malamocco. Marietta hatte mich davon überzeugt - eigentlich eher gezwungen -, einem armenischen Gewürzhändler einen Besuch abzustatten, der zwischen den Gemüsegärtnern der Insel mit Pulvern und Gemischsaat handelte. Sein Bruder, ein Kaufmann in einem Hafen von Kleinasien, brachte ihm alle sechs Monate Mineralien, die wir sonst nirgendwo bekamen. Anstatt sich ein neues Kleid zu kaufen, hatte sich Marietta immer lieber das helle veilchenblaue Pulver gewünscht, mit dem sie das Gewand einer Frau ausmalen konnte. Nie hat sie für sich so viel ausgegeben wie für ihre gemalten Frauen. Und dieser Armenier auf Malamocco führte unter anderem auch diese blauen Kiesel, die nussgroßen, afghanischen Lapislazuli, die seit dem Krieg in Venedig so selten geworden waren. Das Blau, das man durch Zermahlen herausbekam, war die kostbarste Farbe, die es gab. Der Lapislazuli sei ein Himmelsstein, ein mit Sternen gesprenkelter, himmelblauer Stein. Marietta sprach mit einem solchen Verlangen von diesen verdammten Lapislazuli aus Afghanistan, dass ich nicht Nein sagen konnte.
    Schon seit Jahren kam mein Funke nicht mehr mit, wenn ich Farben oder Sonstiges einkaufen ging. Die Zeiten waren vorüber, wie ein schöner Traum, an den man sich, kaum aufgewacht, schon nicht mehr erinnern kann. Glaub mir, Herr, für mich gab es keinen
Grund, bis nach Malamocco zu fahren. Da wir aber nicht mehr die Gelegenheit hatten, ein paar Stunden allein zu verbringen, tat ich ihr den Gefallen.
    Seltsamerweise trafen wir jedoch auf Malamocco keinen armenischen Gewürzhändler an. Wir liefen zwischen den Bauernhöfen und Feldern umher, schnüffelten in den Tennen der heruntergekommenen Hütten inmitten von Scharen schmutziger Kinder, die Truthähne und Hühner jagten.«Obwohl auch in unserer Republik so viel Armut herrscht», murmelte Marietta,«ziehen viele Ausländer sie jeden Tag ihrem eigenen Land vor. Es ist mir unvorstellbar, wie viel Krieg und Entsetzen in der Welt da draußen jenseits unserer Grenzen herrschen muss. Wie traurig, dass Venedig die Kinder und vor allem die kleinen Mädchen, die keinen sie beschützenden Vater haben, gleich zweimal bestraft.»Dann ging Marietta zu den Bauern, die ihr von einem Pfad erzählten, der erst an einem Weinberg, dann an einem Hirsefeld entlanglief und schließlich in ein Gebüsch mündete. Die Hinweise führten alle ins Leere. Mir machte das nichts. Mir waren die Lapislazuli und der Armenier egal. Ich wollte ihn gar nicht finden. Ich lief einfach Marietta auf den staubigen Wegen hinterher, entlang den Werfthütten im Schilf und zwischen den hohen Sanddünen.
    Sie suchte etwas, ich nicht. Ich war wie beseelt. Die Schatten, die sich diesen Winter über uns gelegt hatten, waren verflogen. Als wäre nichts geschehen. Als hätte ich Tintoretta gar nicht kennengelernt, als hätte Marietta sie nie in meine Werkstatt geholt, als hätte Marco Augusta überhaupt nicht vor,

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