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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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erbärmliche Lüge. Die Stille war scharf wie eine Messerklinge. Marietta schaute mir fest in die Augen, während ich den Geldbeutel für den armenischen Gewürzhändler vor meinen Bauch presste. Ich dachte an die auf Andrianas Bett liegenden Silberdukaten. Ich hörte ihre Stimme, die sagte: Mein Guter, das würdest du nie tun. Und meine: Und ob ich das tun werde .«Sieh an», sagte ich nur, als wäre es ganz normal, dass eine Frau ohne krank zu sein mit einundzwanzig Jahren stirbt. So alt war Tintoretta in jenem Mai geworden.
    Marietta drehte sich um und trat ans Ufer. Die vom Wind aufgepeitschten Wellen zogen sich jedoch zurück, als wollten sie auf Venedig zurollen. Marietta stellte sich mit den Füßen ins Wasser. Als eine Windbö ihren Schal fortriss, schaute sie ihm reglos hinterher.«Mein Funke», sagte ich und trat neben sie,«warum machen wir uns hier die Füße nass? Was hat das für einen Sinn? Es ist spät, wir müssen nach Hause.»Auf einmal sah ich, dass ihr Tränen übers Gesicht rannen.
    Wenn Marietta wirklich traurig war, weinte sie nicht: Sie spielte Musik, als könnte diese sie umstimmen. Ich hatte ihr beigebracht, dass Tränen Anzeichen einer nutzlosen Schwäche seien. Nur Kinder und Feiglinge würden heulen, sie aber müsse stark sein, den Schmerz aushalten und aus ihm schöpfen. Im Schmerz kreativ werden, ihn begreifen und lieben. So machte ich es. Niemand hat mich je weinen sehen. Man wirft mir vor, schnell in Zorn zu geraten, bei anrührenden Gefühlen aber keine Regung zu zeigen. Vielleicht ist es so - vieles entrüstet, wenig ergreift mich. Marietta murmelte, dass sie es nicht fassen könne - sie sei so jung und hübsch gewesen. Um das Thema zu wechseln, sagte ich:«Ich werde ein anderes Modell für dich finden.»
    Gern hätte ich etwas anderes zu ihr gesagt - aber ich tat es nicht, Herr. Mariettas Trauer regte mich innerlich auf. Was ging sie Tintorettas Schicksal an? Marietta hatte nichts mit ihr zu tun. Ich konnte ihre Tränen oder vielleicht eher den Grund ihrer Tränen
nicht ertragen, Herr. Ich hatte versucht, sie vor Schmerz, Enttäuschung und Ernüchterung zu bewahren - ihr Leben zu einer Oase der Ruhe und Schönheit zu machen. Dazu nicht fähig gewesen zu sein ist eine Schuld, die ich nur verbüßen werden kann, wenn du mich ein zweites Mal leben lässt. Sie wegen Andriana leiden zu sehen kränkte mich - ließ die Fundamente des Gebäudes bröckeln, das ich für sie und für uns alle aufgebaut hatte. Du allein weißt, ob ich mir die falschen Hoffnungen gemacht habe, als Einziger für Glück und Leid meiner Tochter verantwortlich zu sein. Du weißt, dass mir ihr Wohl mehr am Herzen lag als meins.
    Marietta erzählte, dass sie sie nach ihrem Verschwinden Anfang Januar überall habe suchen lassen, doch vergeblich. Andriana schien wie vom Erdboden verschluckt. Laut Stana, der Slawin, sei sie aus Venedig weggegangen. Heute Morgen habe Angela sie dann zum Ponte della Paglia gerufen. Als meine Tochter den Namen der Brücke aussprach, war mir alles klar, Herr. Man muss nicht in Venedig geboren sein, um zu wissen, dass dies die Brücke der Toten und der Gespenster ist. Ohne einem von uns Bescheid zu geben, sei sie, Marietta, dem Dienstmädchen ans Ufer von San Marco gefolgt, vor die Gefängnisse des Dogenpalastes. In der Nacht zuvor hätten die Fischer wie gewöhnlich auf der Höhe von Malamocco ihre Netze ausgeworfen; dieses Mal habe sich allerdings keine Meeräsche in ihren Maschen verfangen.
    Man habe sie inmitten von Leinen, Netzen und Tauen da bei der Brücke hingelegt. Marietta habe sich mit den Ellbogen einen Weg durch die Menge bahnen müssen, die sich um die Leiche scharte. Ertrunken, das sei das einzige Wort gewesen, das die Leute immer wieder stumpf vor sich hingesagt hätten. Sie habe auf dem Rücken gelegen, mit ausgestreckten Armen. Ihre Glieder seien aufgedunsen gewesen, die Beine hätten wie Baumstümpfe ausgesehen. Keiner habe gewusst, wie lang sie bereits im Wasser umhergetrieben sei. Eine Nachbarin habe ihr später erzählt, dass sie am Samstag das letzte Mal gesehen worden sei. Sie sei auf dem Weg nach
Malamocco gewesen. Am Ufer habe ein Boot auf sie gewartet. Die Nachbarin habe beobachtet, wie sie hübsch zurechtgemacht, als ginge sie zu einer wichtigen Verabredung, das Haus verlassen habe. Bezaubernd, mit weiß geschminkten Wangen, roten Lippen und in einem traumhaft schönen Kleid - gewiss kostbar, weiß und mit goldenen Zierstickereien. Sie habe wie eine Braut

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