Tintorettos Engel
ihr inzwischen bis an die Hüften reichte. Ich lief hinter ihr her, bis ich sie endlich am Ellbogen zu fassen bekam. Da schrie sie:«Weißt du, was die Fischer von Malamocco gesagt haben? Dass sie sofort begriffen hätten, dass es eine Frau war, weil tote Frauen mit dem Gesicht zum Himmel an die Oberfläche kommen, Männer dagegen mit dem Gesicht nach unten. Und weißt du auch, warum? Weil Männer Angst haben, dem, der sie anschaut, in die Augen zu sehen und die Wahrheit zu sagen. Außerdem haben die Fischer erzählt, dass sie sich Steine in die Ärmel gesteckt habe, da sie sonst zu früh aufgetrieben worden wäre. Sie ist nicht gefallen, es war kein Unfall. Sie hat sich irgendetwas Schweres - Steine, vielleicht Münzen - ins Kleid und unter den Rock genäht, überallhin, der Faden hing noch an den Kleiderfetzen. Die Fischer glaubten, im Saum noch einen glatten, flachen Stein zu ertasten, als sie sie aus dem Wasser zogen. Da haben sie mit ihren Fingernägeln den Faden zerrissen und etwas Unglaubliches entdeckt. Einen Dukaten, und zwar einen silbernen.»
«Schluss jetzt, hör auf!», schrie ich sie an. Ich versuchte, ihr die Steine aus der Hand zu reißen, doch als sie zurückwich, verlor ich das Gleichgewicht, und wir fielen beide ins Wasser. Mir lief
Wasser in Nase und Mund, ich verschluckte mich, japste, spuckte und hustete. Sie war auf mich gefallen und drückte mich mit ihrem Gewicht auf den Grund. Ihr Gesicht war untergetaucht, und auch sie hatte Wasser geschluckt. Für eine Schrecksekunde dachte ich, Herr, sie wolle sich tatsächlich mit mir ertränken. Sie wusste, dass ich eine Höllenangst vor tiefem Wasser hatte. Je kräftiger ich sie festhielt, desto mehr glitt sie mir aus den Armen, je mehr ich versuchte, sie an Land zu ziehen, desto stärker zappelten wir bloß in dem Wasser herum. Noch immer drückte sie einen der von Miesmuscheln überzogenen, spitzen, scharfkantigen Steine an ihre Brust. Erst als ich sie an den Schultern packte, regelrecht an Haaren, Armen und Kleid zog, bekam ich sie von der Stelle. An dem kantigen und glitschigen grünen Stein kratzte ich mir die Hand auf. Endlich konnte ich mich mit den Knien in den Sand fallen lassen. Ich war triefnass. Und keuchte. Verbittert sagte Marietta zu mir:«Wo war dein Gott, als deine Tintoretta ins Wasser gesprungen ist? Wo wirst du sein, geliebter Vater, wenn ich ins Wasser springe?»Ich wischte ihr den Sand aus dem Gesicht. Es war bereits dunkel.
27. Mai 1594
Elfter Fiebertag
Meine jüngste Tochter kam zum Ausklang dieses schrecklichen Jahres auf die Welt. Marietta unterstützte die Hebamme und meine Frau bei der Entbindung, hielt ihrer Mutter während der Wehen die Hand und wischte das Blut weg. All das schien etwas grundlegend Verkehrtes zu haben. Nur weiß ich weder wann noch wie unser Leben schiefzulaufen begann.
Faustina hatte die unerwartete Schwangerschaft bis zuletzt geheim gehalten. Es war ihr peinlich, ihren drei inzwischen erwachsenen Söhnen sagen zu müssen, dass sie noch Mädchen genug war, um schwanger zu werden. Doch Dominico und Zuane prahlten damit, dass ihre strahlend schöne Mutter wie eine Seerose sei, die zu jeder Jahreszeit aufblühe; mir gingen sie jedoch aus dem Weg. Mein angenommener Sohn Marco Augusta gratulierte mir zu meinem unerschütterlichen, noch nicht versiegten Zeugungsdrang. Mein leiblicher Sohn Marco ließ die sarkastische Bemerkung fallen, dass ich in meinem ehrwürdigen Alter - ich war vierundsechzig - mehr Rücksicht auf meine Frau nehmen könnte und es dabei belassen sollte, Nutten zu schwängern. Es war das einzige Mal, dass wir handgreiflich wurden. Ich haute ihm ins Gesicht und schlug ihm einen Zahn aus. Seitdem muss ich jedes Mal, wenn er lacht, an den Tag denken, an dem er mich beleidigt hat. Marietta aber verlor kein Wort darüber, als Faustinas Schwangerschaft in all ihrer Pracht zu erkennen war.
Das Geschöpf an der Brust meiner Gemahlin war der eindeutige Beweis unseres Zusammenhalts. Der Beweis unserer Nächte und unserer verspäteten Hochzeitsreise nach Mantua. Als Marietta
Faustina den Säugling aus den Armen nahm und der Hebamme zum Wickeln reichte, überkam mich, warum auch immer, ein leichtes Schamgefühl.«Deine Tochter ist wunderhübsch», beteuerte mir Marietta.«Sie hat so verstörend leuchtende Augen, dass ich ihrem Blick nicht lange standhalten kann.»«So ist es mir auch schon ergangen», entgegnete ich zögerlich im Türrahmen stehend.«Drei Generationen habe ich aufwachsen sehen.
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