Tintorettos Engel
Ich bin eine Art Zuschauer eines Theaterstücks, das ich inzwischen auswendig kenne. Das erste hat mich verzaubert, das zweite bestätigt, das dritte gelangweilt. Ich habe zu viele Töchter und bin zu alt, um gerührt zu sein.»
«Du wirst nie alt werden, Jacomo», erwiderte Marietta.«Und dass du gerührt bist, kannst du dir ruhig eingestehen.»Sie hatte recht. Herr, ich habe das Glück einer weiteren Tochter nicht verdient. Für meine Sünden hatte ich deine Strafe verdient, aber nicht deine unendliche Güte. Um meine Gefühle, meine Schmach und meine Dankbarkeit zu verbergen, beugte ich mich zu dem Neugeborenen hinunter und gab ihm einen Kuss auf das Köpfchen. Gern hätte ich das Kind, meine Frau, Marietta, das Mädchen, das es nicht mehr gab, sowie dich, Herr, um Verzeihung gebeten, und auch mich selbst, denn ich hatte alle betrogen.
«Wie soll sie heißen?», wollte Marietta von mir wissen.«Darüber habe ich mir nie Gedanken gemacht», antwortete ich wahrheitsgemäß.«Wenn ich ein kleines Mädchen bekäme, würde ich es Laura nennen», sagte Marietta.«Denn Laura ist der Name der am meisten geliebten Frau. Und die Liebe, die sie selbst ausstrahlt, währt ewig.»
Damals beschloss ich, dir all meine Töchter darzubringen: Lucrezia, bereits zwölf Jahre alt, Ottavia mit acht und sogar die Neugeborene, die erst seit ein paar Minuten die Luft dieser neuen Welt atmete. Die Jungfräulichkeit meiner Töchter für meine Unreinheit, die Frucht meines Samens für deine Vergebung. Gepriesen
seist du mit jedem Tag meines Lebens - unser Leben sei dir, Herr.
Das Kloster von Sankt Anna war kahl, die Kirche schmucklos, die Altäre waren alt und wurmstichig. In anderen Frauenklöstern Venedigs - wo die angesehenen Adelsfamilien ebenfalls ihre Töchter hinschickten - waren die Wände mit Gemälden tapeziert und leuchtete das Gold der Ausstattung selbst im Dunkeln. Die Nonnen von Sankt Anna jedoch schickten ihre Laienschwestern barfuß zum Betteln auf die Brücken von Castello. Diese freiwillige Armut, die ich damals als einen Beweis für den Glauben an das Wort des heiligen Evangeliums deutete, kränkt mich heute zutiefst. Ich bot mich an, die Kirche zu bemalen und die nackten Altäre mit Bildern zu bestücken, wodurch dem Konvent große Ehre zuteil würde. Als sich die Nonnen im Kapitelsaal versammelten und über die Aufnahme der neuen Mädchen abstimmten, wurde Lucrezia angenommen.
Wie schon ihrer Schwester Perina teilte ich Lucrezia die Nachricht persönlich mit. Ich glaube, dies war die einzige Unterhaltung, die wir je führten. Meine dritte Tochter war intelligent, aber mürrisch, ein seltsames, stilles Mäuschen. Seitdem Perina kurz nach Mariettas Hochzeit ins Kloster gegangen war, hatte Faustina Lucrezia immer wieder gefragt, was sie davon halte, ihrer gutherzigen Schwester dahin zu folgen.«Nichts, da sind nämlich diese schwarzen, hässlichen Nonnen, und die machen mir Angst», wehrte das Mädchen ab.«Aber da sind auch ganz viele andere junge Mädchen in deinem Alter», wandte Faustina ein,«außerdem ein Garten mit Zuckerrüben, es ist das reinste Schlaraffenland, es wird gesungen und getanzt und den ganzen Tag lang nur Süßes gegessen - und Bücher gibt es dort auch, weißt du? Du liest doch so gern, und du kannst sogar jeden Tag bei einer studierten Novizenmeisterin in die Schule gehen und musst dich nicht mit mir abfinden, wo doch mein Gehirn vom vielen Kinderkriegen und -großziehen völlig verschrumpelt ist.»«Nein, ich will hierbleiben»,
entgegnete Lucrezia erschrocken und versteckte sich in Mariettas Atelier.
Faustina war streng mit den Mädchen.«Deine Töchter lieben nur dich», beklagte sie sich,«wenn sie könnten, würden sie mich ins Feuer werfen.»Für die Jungen hätte sie dagegen ihr Leben gegeben und ergriff bei Auseinandersetzungen stets für sie Partei. Dominico vergötterte sie geradezu, nannte ihn«mein vollkommener Sohn». Marco verzieh sie sämtliche Gaunereien, und Giovanni verhätschelte sie maßlos: Er war ihr«Genie mit Flügeln». Und noch zwanzig Jahre nach seinem Tod trug sie einen Anhänger mit Ottavios Portrait um den Hals. Sie verwöhnte die Jungen auf geradezu unverschämte Weise. Die Mädchen hingegen wuchsen kümmerlich wie Brennnesseln vor sich hin. Sie ließ sie wie Ziegen auf der Weide grasen, schickte sie mit schmutzigen Knien und verschmiertem Mund ständig die Treppen rauf und runter und in den Hof.«Die Mädchen», so meinte sie,«müssen allein zurechtkommen.
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