Tintorettos Engel
Das wird ihr Leben lang nicht anders sein.»
Als ich Lucrezia erzählte, dass sie im September ins Kloster eintreten werde, da mir das besondere Glück beschert worden sei, Gott dem Herrn eine weitere Tochter schenken zu dürfen, schaute sie mich mit dunklen, unruhigen Augen misstrauisch an und beteuerte mir, über die Ehre, die ich ihr gewährte, glücklich zu sein - danke, Vater, danke, sie hörte gar nicht mehr auf zu danken -, und verschwand. Sie erschien nicht zum Abendessen und kehrte auch in tiefster Nacht nicht heim.
Wir suchten sie zunächst in Mariettas Atelier, wo sie sich normalerweise zwischen den aufgerollten Leinwänden und den Farbschüsseln versteckte, genau wie früher Marietta. Lucrezia war jedoch unauffindbar. Bestürzt suchten wir sie im ganzen Haus und in der ganzen Stadt.
Früh am nächsten Morgen brachten die Häscher vom Zoll sie nach Hause. Sie hatten sie aufgeschnappt, als sie ziellos durch Marghera irrte. Sie trug einen Rubin, einen Amethyst und drei
Smaragde bei sich, die sie dem Juwelier entwendet hatte, war als Junge verkleidet und hatte sich die Haare kurz geschnitten.«Wo wolltest du denn hin?», fragte ich sie.«Nach Padua», antwortete sie, ohne ihr abenteuerliches Vorhaben und die Angst, in die sie uns versetzt hatte, auch nur im Mindesten zu bereuen.«Und weswegen? Was hat Padua, was Venedig nicht hat?»«Eine Universität, Vater.»«Eine Universität!», sagte ich lachend.«Frauen gehen nicht an die Universität, ich dachte, das wüsstest du.»«Ich werde trotzdem hingehen», erwiderte sie bockig.«Es gibt für alles ein erstes Mal. Irgendjemanden gibt es immer, der etwas tut, was noch nie zuvor getan worden ist. Die Leute lachen ihn aus, bestrafen ihn, stellen ihn als schlechtes Beispiel hin. Doch mit der Zeit gewöhnen sie sich daran. Und dann wird selbst seine Ehre wiederhergestellt. Das hast du mir beigebracht. Und ich will die Erste sein. Ich will Physik, Mathematik und Geografie studieren.»«Diesen Blödsinn hab ich dir nicht beigebracht, aber irgendjemand muss dir diese Flausen in den Kopf gesetzt haben», herrschte ich sie an. Ich machte mir langsam ernsthafte Sorgen.«Marietta!», rief ich,«wo ist Marietta? Ich will mit Marietta sprechen!»
Als Marietta schlaftrunken aus dem oberen Stockwerk herunterkam, warf sich Lucrezia ihr vor die Füße und flehte sie an, sie bei sich zu behalten. Marietta hatte jedoch nichts, was sie ihr hätte bieten können - außer einem gebrochenen Herzen und einem Leben, das sie mit der Schwester weder teilen konnte noch wollte.«Du musst das tun, was dein Vater dir sagt», redete sie auf sie ein.«Wenn du unbedingt studieren willst, kannst du es im Kloster tun. Ich habe weder Geld, noch kann ich dir eine Aussteuer geben, und außerdem wüsste ich nicht, wo ich einen intelligenten und frei denkenden Mann für dich auftreiben soll, der bereit ist, eine Wissenschaftlerin zu heiraten.»«Aber da ich keinen Mann will, brauche ich auch keine Aussteuer», warf Lucrezia ein. Mit hoffnungsvollem Blick sah sie mich an, doch mein Gesicht strahlte nichts als unerschütterliche Entschlossenheit aus.«Du kannst
nicht ohne einen Mann in dieser Welt leben, Lucrezia», fügte Marietta hinzu.«Das ist so nicht vorgesehen. Wenn du als ehrbare Frau zur Gesellschaft gehören willst, musst du entweder heiraten oder Nonne werden. Wenn du am Rand leben und dich für ein paar Jahre vergnügen willst, wenn du dich benutzen und danach wie einen alten Schal wegwerfen lassen willst, dann wirst du Hure. Einen anderen Weg gibt es nicht.»Lucrezia traute ihren Ohren nicht. Noch nie hatte sie Marietta so reden hören - und ich auch nicht.«Geh nach Sankt Anna, und wenn du nach einem Jahr meinst, es wäre besser, in diese Welt zurückzukehren und zu heiraten», versuchte sie sie weiter zu besänftigen,«dann verpreche ich dir, dass wir dich holen kommen. Nicht wahr, Jacomo?»«Ja», stimmte ich ihr zu. Am Ende hatte Lucrezia von sich aus bleiben wollen. Sankt Anna wieder zu verlassen hätte ich ihr dessen ungeachtet niemals erlaubt.
Als sie die Ordensgelübde ablegte, waren wir alle dabei. Meinen Adelstalar trug ich das letzte Mal zu diesem Anlass. Ich gab einen Haufen Geld aus, um neben den prunkvollen Familien ihrer Gefährtinnen eine gute Figur zu machen. Ich bezahlte die Messdiener, Sänger und Priester, den Beichtvater, die Äbtissin und die Priorin, ich machte allen Geschenke und ließ den Nonnen ein Festmahl bereiten, das mich einen Monat Arbeit gekostet hat.
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