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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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mir meinen Funken wegzunehmen, als wäre ich nie nach Mantua geflüchtet. Ich folgte ihr, den Abdrücken ihrer nackten Füße im Sand, dem Schatten ihres Kleides, dem Hutband, das in der salzigen Luft zwischen den Tamarisken flatterte. Es war wie ein Tor in die Vergangenheit, als hätten wir die traumhaften Tage und ihre entschwundene Magie, die noch immer fortwirkte, wieder gefunden. Als die Sonne langsam
unterging und im Dunst rings um uns eintauchte, hätte ich sie gern festgehalten - damit dieser süße Tag voller Wehmut niemals zu Ende ging.
    Marietta steuerte auf ein Häuschen zu, das am äußersten Rand des vom Wind gepeitschten Strands lag. Ihr weißes Kleid leuchtete im flach einfallenden Abendlicht wie ein gleißend heller Fleck. Der Seidenschal um ihren Hals wehte mir in den Bart - wie eine Liebkosung. Sie ließ ihren Blick über die Lagune schweifen. Ich ahnte, dass sie mir etwas sagen wollte. Meine Tochter habe ich immer verstanden, Herr. Ihr Schweigen sagte mir so viel wie ihre Worte. Wir waren immer eins gewesen. Doch in ihr lesen konnte ich so gut wie nicht. Auf einmal fragte mich Marietta:«Wo warst du Samstagnachmittag?»
    «Warum willst du das wissen?», fragte ich argwöhnisch zurück.«Antworte mir», sagte sie,«ich bitte dich, gib mir eine Antwort, Jacomo.»«Ist doch völlig unwichtig, oder nicht?», erwiderte ich ausweichend.«Ich werde zu Hause bei der Arbeit gewesen sein.»«Du warst nicht zu Hause bei der Arbeit», stellte sie richtig. Auf Zehenspitzen drückte sie ihr Gesicht gegen die Haustür. Sie war angelehnt, im Innern war alles dunkel, es war niemand da. Ich fühlte mich unwohl. Ich verstand nicht, was sie von mir wollte. Ich erinnerte mich wirklich nicht, wo ich an jenem Samstag gewesen war. Und ich verstand auch nicht, warum ich mich unbedingt daran erinnern sollte.«Du bist früh aus dem Haus gegangen und erst bei Dunkelheit wieder heimgekehrt», behauptete Marietta.«Deine Haare rochen nach Salz, und unter deinen Schuhen war Sand.»Ich lachte. Vielleicht sollte ich besser sagen, ich grinste. Mir war nie aufgefallen, dass man mir hinterherspionierte. Zumindest nicht meine Tochter.«Was ist das?», rief ich.«Eine Eifersuchtsszene, holdes Ungeheuer?»«Deiner Frau hast du erzählt, du würdest mit Antonio nach Murano fahren, um den Vertrag mit den Battuti von San Giovanni zu unterzeichnen», erwiderte Marietta kühl.«Aber ich bin nicht deine Frau. Ich habe den
ganzen Nachmittag mit Antonio verbracht. Giulia hat mich zum Musizieren zu sich nach Hause eingeladen.»
    «Jetzt aber Schluss», sagte ich streng.«Du bist nicht in Murano gewesen», fuhr Marietta unbeirrt fort. Ihre Stimme kratzte wie der Fingernagel an der Wand.«Du bist am Samstagnachmittag nach Malamocco gefahren. Und du weißt ganz genau, warum ich dich danach frage.»«Ich weiß nicht, wovon du sprichst», sagte ich kühl. Marietta biss sich auf die Lippen und schüttelte den Kopf. Sie glaubte mir nicht, Herr. Was auch immer ich in dem Moment gesagt hätte, es hätte sie nicht überzeugt. Ich empfand ein merkwürdiges Schwindelgefühl. Wie wenn man am Rand eines Abgrunds entlangläuft und sich von ganzem Herzen wünscht, sich einfach fallen lassen zu können, kopfüber.
    «Andriana war Samstagnachmittag hier. Hier hat man sie das letzte Mal gesehen, Jacomo.»«Mein Funke», seufzte ich,«dieses pöbelhafte Gerede aus deinem Munde, das schickt sich nicht.»«Aber die Tintorettos sind kein schnöder Pöbel, wir können offen und ehrlich miteinander reden und brauchen uns nicht hinter einem Grashalm zu verstecken, nicht wahr?», erklärte sie mit hochgezogenen Schultern. Sie ging auf ein an Land liegendes Boot zu. Es war ein Fischerboot mit rot-weißen Längsstreifen, in dem noch das Netz lag.«Weißt du es wirklich nicht?», fragte sie plötzlich, und ihre Stimme klang verändert.«Diese junge Frau, die sich so nannte wie ich, sie ist tot.»
    Vor Schreck wäre ich beinahe hingefallen. Obschon ich mir nichts anmerken lassen durfte. Mein Leben lang habe ich meinen Gemütszustand nicht zu verbergen versucht. Wer mich kennt, kennt auch meinen Zorn, meinen Widerwillen und meine Begeisterung. Ich habe nie Gefühle vorgetäuscht, die ich nicht empfinde. Ich bin kein Taktiker, trage bei all meinen Angelegenheiten immer das Herz auf der Zunge. An jenem Abend aber war ich so erschüttert, dass ich zitterte, als hätte mich eine Muräne berührt, und doch tat ich so, als wäre nichts. Meine kalte, gleichgültige
Art war eine

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