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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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Tage handeln. Ich hatte es zwar bereits vor Monaten erfahren, aber erst in diesem Moment wurde es für mich zu einer offenkundigen Tatsache - und unumkehrbar. Instinktiv streckte ich die Hand aus und legte sie auf ihren runden Bauch. Unter meinen Fingern spürte ich, wie sich darin etwas regte. Marietta strich mit ihrer Hand über mein Gesicht, über Wangen, Nase und Mund und kraulte meinen weiß gewordenen Bart.«Warum bist du gekommen?», flüsterte sie und trat ans Fenster. Was sollte ich antworten? Weil du mein Funke bist, ohne den ich zu Asche verglüht bin? Aber keinen derartigen Satz hatte ich je in meinem Leben über die Lippen gebracht.
    «Ich bin gekommen, um mir die Dinge, die nie geschehen, aber immer sind anzusehen. Deine Historienbilder, Marietta. Du hattest mich um meine Meinung gebeten», erinnerte ich sie. Aber noch ehe ich den Satz beendet hatte, merkte ich, wie absurd meine Worte klangen. Nicht eine Geschichte war zu sehen. Auf der Staffelei stand nicht einmal eine Leinwand. Weder Blätter noch Skizzen, Zeichnungen oder aufgerolltes Leinen, weder Kohle noch Stifte oder Gänsefedern. Die Palette war sauber. Die Schalen alle leer. Und der Mörser zum Zerreiben der Farben stand, von einer fingerdicken Staubschicht bedeckt, vergessen in der Ecke herum.«Wo sind die Geschichten, Marietta?», fragte ich.«Du kannst sie sehen», erwiderte sie.
    Mein Blick schweifte von ihrem angeschwollenen Körper und den prallen Brüsten über die wie nach einem Schiffbruch herumstehenden Möbel und verharrte schließlich auf der nackten Wand.
Von der salzhaltigen, feuchten Luft hatte der Putz sich zu kräuseln begonnen und bröckelte langsam ab. Auf Fußboden, Schreibtisch und der Brille mit den getönten Gläsern, die auf einer Konsole lag, war weicher weißer Flaum niedergefallen. Ich wollte sie fragen, was sie aus ihrem Talent gemacht habe. Aber sie öffnete das Fenster und zeigte mir die aufwirbelnde Staubwolke am Himmel über den Spinnereien vom Canal Grande. Aus den Schornsteinen der Häuser stiegen Rauchfäden empor, vorbei an Dächern und Kirchtürmen, um sich schließlich in Schwaden zu vermengen und in den Wolken zu verschwinden.«Dieses Schauspiel könnte ich mir ewig ansehen», sagte sie.
    «Mach das Fenster zu, Marietta, sonst kommt noch die ganze warme Luft herein, hier drinnen erstickt man ja fast», forderte ich sie auf.«Was gibt es Faszinierenderes als Staub», murmelte sie.«Die meisten bemerken ihn nur, wenn er ihre Möbel, Böden und Kleider bedeckt. Dabei ist er überall. Und in den Sonnenstrahlen ist er noch viel dichter, vielleicht weil sie eine unwiderstehliche Anziehung auf ihn ausüben. Er ist winzig klein, unsichtbar, unbedeutend. Wenn man über ihn hinwegpustet, fliegt er auf. Es gibt nichts, was noch minderwertiger wäre. Ich kenne nichts Gehaltloseres - er ist sogar noch gehaltloser als der Wind. Und doch ist er so unglaublich zäh. Ich versuche zu verstehen, warum es ihn gibt. Wofür gibt es nutzlose Dinge, Jacomo?»
    «Mach das Fenster zu, Marietta», bat ich sie erneut. Da meine Tochter mich nicht hören wollte, schloss ich es kurzerhand selbst. Wie merkwürdig sie war, Herr. Wenn ich sie nicht so gut gekannt hätte, ihr Gesicht, ihre glänzende Stirn, das Grübchen im Kinn, den Schatten ihrer Augenbrauen, den Schwung ihrer Lippen, ich hätte geschworen, vor mir stünde eine Fremde. In ihren hellen Augen funkelte ein beängstigendes, irres Leuchten.«Die Sonne zieht den Staub an, um ihn sichtbar zu machen. Der Staub kann nicht anders, als gesehen zu werden, sonst weiß er nicht, dass es ihn gibt, verstehst du?», erklärte sie mir.«Aber mein Funke»,
stammelte ich und zog die Vorhänge zu,«warum erzählst du mir das alles?»
    Leichenblass, zerstreut, dickleibig, bläuliche Augenringe um gerötete Lider. Marietta, meine allerliebste Tochter. Hier war sie, in diesem viel zu kahlen Zimmer, in diesem schäbigen Morgenrock, diesem hässlichen Haus - ohne Loggia, ohne Fondamenta und ohne Wasser -, mit zwei Fremden in einer befremdlichen Wohnung. Wie konnte das passieren? Ich steckte ihre Brille in meine Brusttasche, nahm den zerknitterten Mantel von der Sessellehne und legte ihn um ihre Schultern. Dann schaute ich mich nach ihren Schuhen um, da sie noch immer mit den vor ewigen Zeiten von Perina mit Wolle gefütterten Pantoffeln herumlief, aber ich fand sie nirgends, wollte aber auch nicht das Dienstmädchen herbeirufen.«Komm, mein Funke», sagte ich und nahm sie an der Hand,«wir

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