Tintorettos Engel
befreundeten Philosophen und Wissenschaftler hatten sie sich auf ihren Versammlungen zugeflüstert. Und ich war völlig verblüfft von einer derart bahnbrechenden und irrsinnigen Vorstellung, dass nicht die Erde im Zentrum der Welt steht, sondern dass ihre Mitte die Sonne ist - also das Licht. So unvorstellbar der Gedanke auch war, spürte ich doch, dass er stimmen musste. Auch ich glaubte und glaube noch immer, dass Licht alles ist. Angesichts der Unendlichkeit sind wir nichts anderes als das Aufflackern eines Funken in der Ewigkeit der Nacht. Dennoch ist auch dieser Funke ewig. Meine Kinder hätten mir jeden Unfug und
jede Häresie geglaubt und wären mir überallhin gefolgt, denn für sie war ich tatsächlich ihre Sonne.
Aber so sehr Hypernikus, Kopernikus oder wie, zum Teufel, er auch hieß recht haben mochte, ich hatte es nicht. Ich war und bin nicht die Sonne. Allerdings brauchte auch ich meine Planetensöhne. Ohne sie hätte ich mein Werk nie vollendet - fehlte mir doch die Freiheit und Ausdauer, mich meinem Vorhaben zu widmen. So wie sie sich meiner bedienten, habe ich mich ihrer bedient. Vielleicht habe ich sie sogar deswegen gezeugt.
«Bring diese Bilder zu Ende, Dominico! Du hast mir deine Augen geliehen, weil ich nicht sehen konnte, deine Ohren, weil ich nicht hören konnte, und deine Stimme, weil ich nicht sprechen konnte. Und seit langer Zeit schon hast du mir deine Hand geliehen.»«Ich danke dir für diese Ehre, Vater», sagte er.«Mach dir keine Sorgen wegen der Fristen. Ich werde sie einhalten. Die Kunden werden zufrieden sein. Diesen Raum wird nichts verlassen, was nicht deinen Gefallen gefunden hätte.»Seine dunklen Augen leuchteten. Ich weiß, dass ich ihn glücklich gemacht habe. In meinen treuen Dominico lege ich all meine Hoffnungen, dass mein Name mich überdauern wird- dass er ins neue Jahrhundert hinüberreicht und in ihm fortwährt.«Wenn du dich von den Aufträgen des alten Tintoretto befreit hast», fuhr ich fort,«dann kannst du auf deine Art weitermachen.»«Aber das will ich gar nicht, Vater!», rief er.«Das hast du doch bereits, Hidalgo», entgegnete ich,«und das freut mich.»
Während wir Stufe für Stufe ins Zimmer hinaufstiegen - ich noch immer an seinen Nacken geklammert und er mit den Händen meine Knie abstützend -, erzählte ich ihm von dem kleinen Mädchen.«Da gibt es ein Waisenkind bei der Jungfernkirche von Giudecca. Es hat blondes Haar und Augen, die so blau wie Aquamarin sind. Ein niedliches kleines Ding, das im Dialekt der Lagunenfischer spricht. Andriana heißt sie. Du musst sie holen und anstellen.»
«Wir brauchen nicht noch eine Magd, Papa», entgegnete Dominico.«Wir haben schon Vienna, die für uns kocht, und Betta, die Mama im Haushalt unterstützt, und Schila … was sollen wir mit einem kleinen Mädchen, das wahrscheinlich nicht einmal Lauge zum Geschirrspülen ansetzen kann und nicht die Kraft hat, Wasser aus dem Brunnen zu holen?»«Hier ist doch inzwischen so viel Platz», erwiderte ich,«das Haus ist groß. Bring sie im Halbgeschoss oder im Dachstuhl unter, wo du willst, aber auf jeden Fall musst du sie aufnehmen.»
«Papa, deine Frau würde nie ein junges Mädchen zu Hause in Dienst nehmen wollen. Ich weiß, dass ihr bei eurer Hochzeit eine Abmachung getroffen habt. Dein Diener ist ein Zwerg und ihr Dienstmädchen älter als sie.»«Du wirst sie ja auch erst dann holen gehen, wenn ich nicht mehr da bin», erklärte ich ihm.«Sie ist ein anständiges Mädchen, aber inzwischen ist sie zwölf, besitzt keine Aussteuer und hat nichts gelernt. Wenn sich keine aufrichtige Familie ihrer annimmt, wird sie am Ende einen Fischer heiraten, der sie elendig zu Tode prügelt, oder sich als Hure verdingen müssen, und das will ich nicht.»«Wer ist sie?», fragte Dominico besorgt und hielt auf der Mitte der Treppe inne. Unser Schatten zeichnete sich an der Wand ab - wir zwei zu einer seltsamen Chimäre verwachsen, ein Wesen mit zwei Beinen, vier Armen und zwei Köpfen.«Weiß ich nicht, Dominico», erwiderte ich,«ist doch außerdem egal.»
«Wenn es dein Wunsch ist, Vater, werde ich diese Andriana zu uns holen», lenkte er ein. Dann holte er tief Luft und ging weiter. Ich warnte ihn vor, dass er noch eine andere Sache für mich machen müsse. Nachdem er morgen ausgeschlafen habe, müsse er zu Antonio Brinis nach San Marcuola gehen und ihn zu mir bitten.«Wer ist Antonio Brinis?», fragte er überrascht.«Ich kenne ihn nicht.»«Das ist der Notar,
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