Tintorettos Engel
gehen.»«Wohin?», fragte Marietta. Widerstandslos ließ sie sich zur Tür führen. Schila ordnete ich an, uns nach Hause zu bringen.
In tiefster Nacht bat ich Dominico, mir aus dem Bett zu helfen. Da ich mich nicht mehr auf den Füßen halten konnte, nahm er mich auf den Rücken. Ich ermahnte ihn, keinen Lärm zu machen.«Keiner darf wegen uns wach werden, diese Sache geht nur uns beide etwas an.»Während ich meine Arme um seinen Hals schlang, klemmte er seine unter meine Kniekehlen. Und so trug er mich durch das im Schlaf versunkene Haus in mein Atelier. Furchtlos stieg er mit dem hinderlichen Gewicht auf dem Rücken die rutschigen Stufen unserer alten Treppe hinab. Mir kam die Flucht von Aeneas in den Sinn, obschon wir nicht aus unserer in Flammen stehenden Heimat flüchteten. Wenn man allerdings mit Heimat mein vergangenes Leben meint, dann vielleicht doch. Denn es zerfällt zu Staub und Asche. Die glühenden, vom Schutthaufen herunterpurzelnden Holzscheite können mich noch immer verbrennen. Ich weiß jedoch nicht, wohin ich gehe, Herr, und ob mich eine andere Heimat erwartet.
Ab und an blieb Dominico stehen, keuchte und holte Luft.«Welch ein Glück, dass du seit dreizehn Tagen nichts mehr isst», sagte er im Scherz,«nun wiegst du nicht mehr als ein Schmetterling. »Aber der Rücken und die Haare meines Sohnes waren schweißnass. Die anderen habe ich verloren. Mein treuer Dominico ist der einzige Sohn, der mir geblieben ist.
Wir betraten das Atelier. Die Laterne, die Dominico vor sich hochhielt, warf ein schwaches Licht auf meine an die Wand gelehnten Bilder. Mein Atelier glich einer regelrechten Gespenstergalerie: Auf den dunkel grundierten Leinwänden stachen weiße Pinselstriche und die namenlosen Gesichter meiner Figuren hervor. Ich habe sie vor Kurzem nur noch anskizziert - ovale Gesichter ohne Augen, Nase und Mund. Ich werde nicht mehr die Zeit haben, mich noch einmal mit ihnen zu beschäftigen. Mein Theater ist geschlossen. Wir setzten uns an den Schreibtisch. Ich holte aus der Schublade das Ausgabenbuch hervor: Dominico aktualisiert es ständig, hat er doch zeitlebens die Aufgabe gehabt, Ordnung in unser Leben zu bringen. Ich bat ihn, mir die Namen der Auftraggeber vorzulesen und zu überprüfen, ob Fälligkeiten anstünden.«Warum ausgerechnet jetzt, Vater?»fragte er mich verständnislos.«Weißt du, wie viel Uhr es ist? Wozu die Eile? Dir fallen immer wieder die Augen zu, und aufrecht sitzen bleiben kannst du auch nicht.»
Die gesamte restliche Nacht verbrachten wir damit, aus den Verträgen und Unterlagen schlau zu werden und den Skizzen und ovalen Köpfen die richtigen Namen zuzuordnen.«Du musst dir Klarheit darüber verschaffen, zu wem sie gehören. Das ist wichtig. Das ganze Zeug ist deins.»«Was redest du da, lieber Vater?», fragte er besorgt. Er hatte sich bis zu jener Nacht geweigert, dem Ernst meiner Lage in die Augen zu sehen. Genau wie ich.«Ich vertraue dir all diese Arbeiten an», erklärte ich ihm.«Du musst sie beenden. »
«Aber sie wollten sie mit Signatur», wandte er ein.«Ich signiere
nicht mehr!», erwiderte ich.«Tja», sagte Dominico,«dann können sie nur in die Provinz geliefert werden, wo keiner den Unterschied zwischen deiner und meiner Hand bemerkt.»«Aber da gibt es keinen Unterschied», fiel ich ihm ins Wort.«Ich bin ihr und ihr seid ich. Das Haus Tintoretto ist eine auf Verdienst gegründete Republik, keine auf Kraft gegründete Gewaltherrschaft.»«Es gab Zeiten, da hast du so etwas nicht gesagt», entgegnete Dominico mit einem Lächeln auf den Lippen,«ich erinnere mich noch gut an Tintorettos Lehrsatz.»
Pythagoreischer Lehrsatz. Von dem verrückten Hypernikus mathematisch bewiesen. Die Sonne steht unbeweglich im Zentrum des Universums, und Erde, Mond und die anderen Planeten kreisen um sie herum. Deswegen wechseln sich Tag und Nacht ab. Tintorettischer Lehrsatz. Empirisch vom weisen Gelehrten Jacomo bewiesen. Die Sonne bin ich - und ich mache den Tag und die Nacht. Solange ich leuchte, müsst ihr Planeten um mich herumkreisen. Wenn ich erlösche, nehmt ihr meinen Platz ein, macht Licht und erleuchtet andere Planeten - denn das Universum ist grenzenlos und dunkel.
Ich erinnere mich noch gut an meine kleinen Jungen und Mädchen, wie sie diese so kühnen und gefährlichen Worte durch die Gegend posaunten, die uns alle vor das Inquisitionsgericht hätten bringen können und deren eigentliche Bedeutung nicht einmal ich verstand. Aber die mit mir
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