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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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begeben könne - ich sei doch stark wie eine Eiche, das werde ich schon schaffen. Faustina, die hinter der Tür auf der Lauer gelegen haben muss, stürzte sofort auf den Notar zu, der zum Abschied seine Mütze lüftete und sagte, mich das nächste Mal erst in zehn Jahren wieder aufsuchen zu wollen. Falls mir noch irgendetwas einfalle, solle ich ihn sofort rufen lassen.«Eine Sache wäre da tatsächlich noch», murmelte ich. Es fiel mir ungeheuer schwer zu sprechen. Mein Mund war trocken, wie voller Sand. Erneut setzte sich der Notar auf die Bettkante, holte seine Blätter hervor und tunkte die Feder ins Tintenfass. Eilig traten meine Gemahlin und Dominico ans Bett, um mir meine letzten Worte zu entlocken. Es gelang mir tatsächlich, sie ein weiteres Mal zu überraschen.«Begrabt mich nicht sofort», murmelte ich.«Wartet ein wenig. Lasst mich noch drei Tage liegen. Für den Fall, dass ich wieder aufwache.»
    «Meister Tintoretto, Ihr seid wahrlich ein Spaßvogel», sagte der Notar lächelnd, während er die Feder wieder beiseitelegte, das Tintenfass schloss und alles zurück in seine Mappe steckte.«Aber so etwas Seltsames kommt mir nicht ins Testament.»«Mein Mann ist ein wenig anders», versuchte Faustina mich zu verteidigen,«er
hat schon immer alles auf seine Art getan. Daher will er auch auf seine Art sterben.»Ich versuchte ihr zuzulächeln, hatte ich ihr doch zu Unrecht Unterstellungen gemacht - möglicherweise hat sie mich nie verstanden, aber zumindest akzeptierte sie mich so, wie ich bin. Was sonst macht wahre Liebe aus? Feuer passt nicht zu Feuer, sie aber war die Erde - für meine verrückten Launen.
    «Lasst mich hier in diesem Bett liegen», erklärte ich meinem treuen Dominico, der mich fassungslos anstarrte.«Drei Tage lang. Danach könnt ihr machen, was ihr wollt, denn dann werde ich tatsächlich von euch gegangen sein.»
    Ich hörte sie hinter dem Bettvorhang beunruhigt miteinander tuscheln. Dies sei nun wohl die letzte und makaberste meiner wunderlichen Launen.«Heilige und Propheten bahrt man drei Tage lang auf, wer weiß, was dem Maestro da durch den Kopf gegangen ist. Vielleicht hofft er, wie unser Herrgott zur vierzigsten Stunde aufzuerstehen», erwog Sebastiano Franceschi, der mich zeitlebens gekannt hat und sich über nichts mehr wunderte.«Vielleicht hat er Angst vor dem Scheintod», widersprach ihm Faustina.«Nur warum? Nie haben wir darüber gesprochen, und kennen tun wir auch keinen, dem so etwas passiert wäre. Er phantasiert! », kreischte sie auf einmal.«Sein Gehirn bringt wirres Zeug hervor, das bedeutet, dass er jetzt tatsächlich von uns geht, mein armer Jacomo!»Sie zog die Nase hoch, es hörte sich so an, als weinte sie. Gern hätte ich ihre Tränen getrocknet. Aber ich kann meine Hände nicht mehr bewegen. Nicht einmal meinen Letzten Willen konnte ich mehr aufschreiben.«Ihr täuscht euch alle», flüsterte Dominico.«Kapitän Spavento hat zu seinem letzten Fehdehandschuh gegriffen. Vielleicht will es der kühne Traumtänzer nun mit dem Tod aufnehmen.»
    Ob das tatsächlich der Fall war, kann ich nicht sagen. Möglich ist es. Aber während ich dem Notar diktierte, dass ich meine geliebte Gemahlin Faustina Episcopi zur Herrin und Gebieterin meiner Besitztümer und all meiner Kinder und meinen treuen Dominico
zum Erben meines Ateliers mache, begannen meine Gedanken abzuschweifen, und ich erinnerte mich auf einmal an das Reisebuch, aus dem Marietta vor vielen Jahren ihren jüngeren Geschwistern jeden Abend vor dem Kamin vorgelesen hatte. Sie waren derart fasziniert von dem Buch, dass sie mich anschließend so lange mit Fragen quälten, bis meine Frau sie an den Ohren ins Bett schleifte. Sie wollten wissen, ob das alles stimme und wie wir diese Heiden zum Konvertieren bewegen könnten. In dem Buch gab es einen Erzähler - einen Händler oder Missionar -, der durch die Wüsten Asiens zog. Eines Tages kommt er in ein Dorf, in dem alle Einwohner verzweifelt weinen. Als er sie nach dem Grund fragt, erzählen sie ihm, dass ihr großer König verstorben sei. Der Erzähler geht zu einem Turm aus Ziegelsteinen, auf dessen Spitze in einem Glassarg ohne Deckel der Tote aufgebahrt liegt. Rings um den Turm liegen Baumstümpfe, Möbel, Truhen: Alles steht bereit für ein großes Feuer. Aber das Feuer wird nicht angezündet. Auf die Frage des Erzählers, worauf sie noch warteten, erklären ihm die Bewohner, der Tote unternehme gerade seine letzte Reise, auf der ihn niemand stören dürfe. Wenn

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