Tintorettos Engel
Kanäle - lauter zerbrechliche Leinwände, wie große, einfarbige Gemälde, dem Himmel, dem Licht und der Sonne zugewandt.
In einem heruntergekommenen Klassenzimmer lernte ich lesen, schreiben und rechnen, während sich meine Kameraden bespuckten und ihre Popel unter die Schulbänke klebten - in ein paar Jahren würden sie ohnehin bei ihren Vätern arbeiten, um Schiffskapitän, Kerzen-, Mützen- oder Käseverkäufer zu werden, oder um Pelze oder buntes Glas herzustellen, und so waren sie sich sicher, dass Lernen nichts nützte. Auch ich langweilte mich hinter meiner Schulbank und machte mich um die kraftvollen Schläge mit dem Stock des Lehrers verdient - der mir als Strafe für meine Unaufmerksamkeit einmal beinahe die Finger gebrochen hätte. Ich hatte es einfach nicht abwarten können, zurück in die Werkstatt zu laufen und den Arbeitern meines Vaters dabei zu helfen, das Feuer unter den Kesseln anzufachen und mit den langen Glasstäben das bunte Wasser in den Kähnen umzurühren. Auch die Stäbe wurden mit der Zeit rot, schwarz und blau.
Jede Farbe besaß ihren eigenen Geruch und Geschmack. Einige schmeckten mineralisch, nach Erde und entlegenen Stränden - andere nach Tier, verbranntem Holz oder den Tiefen des Meeres. Dort, in der Färberei meines Vaters, ging etwas Magisches vor sich. Und ich wollte der Zauberkraft dieser Verwandlungen unbedingt auf die Spur kommen. Damit alles irgendwie erhalten bleibt, wird aus jedem Ding ein anderes, erzeugt jedes Wesen, jedes Leben eine Kette von Veränderungen, deren Ende nicht abzusehen ist. Die Materie ist zwar das niederste Ding auf Erden, jedoch auch unsterblich.
Mein Vater war der erste Färber Venedigs, der Gummilack aus Indien importierte, um scharlachrote Farbe herzustellen. Gummilack? Das Einzige, was ich sah, waren lauter Körnchen, die unsere Arbeiter in kochendem Wasser auflösten. Die Körner stammten aus einem Harz, das in fernen asiatischen Ländern von winzigen Insekten produziert wird, die Baumstämme befallen und mit rotem Sekret einwickeln. Hinter jeder Farbe steht ein Prozess und hinter jedem Prozess ein Ursprung - das aber, was den Menschen
von anderen Geschöpfen unterscheidet, ist seine Fähigkeit, in die einzelnen Elemente einzugreifen, zu erfinden und zu erschaffen: selbst das winzigste Insekt in einen Tropfen Farbe von überwältigender Schönheit, in etwas Kostbares zu verwandeln. Herr, ich bekenne, ich habe gesündigt: Dieser rätselhafte Vorgang beeindruckte mich mehr als die Auferstehung oder das Alphabet. Sobald es ging, vergaß ich Schule, Kirche, Musikunterricht, Verpflichtungen und Disziplin und schlich mich in die Färberei.
Die Arbeiter fanden immer etwas für mich zu tun. Da sie sehr viel auf ihre Färbemethoden hielten und nicht wollten, dass Neugierige sie ihnen abguckten, baten sie mich, auf dem Kanal Wache zu schieben und jeden zu vertreiben, der sich zu weit heranwagte. Ich aber tat noch mehr. Ich kletterte aufs Dach und warf heimlich Erdklumpen auf die vorbeifahrenden Schiffe. Bei Anbruch der Dämmerung beschmierte ich mein Gesicht mit schwarzer Farbe, zog einen dunklen Mantel über, schnappte mir eine Öllampe und lief wie ein Gespenst heulend am Kanal auf und ab - so kam es, dass in Venedig gemunkelt wurde, die Färberei der Robusti würde vom Teufel bewacht.
Bereits mit neun Jahren half ich den Arbeitern beim Kochen von Vitriol, Indigo und Alaunstein. Mit diesen Giftstoffen hätte man ein ganzes feindliches Heer außer Gefecht setzen können, für mich aber waren sie himmlisches Elixier. Nach Feierabend ging ich in die Werkstatt und gab mich meinen Phantasievorstellungen hin. Die roten, asche- und violettfarbenen Seidentücher flatterten auf ihren Rahmen sanft im Wind, der durch die breiten Öffnungen hereinwehte. Sie waren meine Segel. Ich träumte davon, der Kapitän einer Galeerenflotte zu sein, die Kurs auf das ferne Indien nahm, wo ich einen riesigen Wald gefällt und Millionen von Bäumen die Parasiten entrissen hätte, die ganz Venedig in scharlochrote Farbe tauchen würden. Oder ich fuhr nach China und die Länder Amerikas, um rotes Holz von Brasilien oder Indigo von Guatemala zu kaufen, mit dem ich ein neues Hellblau
erfinden wollte. Zwischen den Tüchern umherlaufend habe ich die ganze Erde umschifft. Wahrscheinlich war dies der Grund dafür, dass ich bis heute nicht den Wunsch verspüre, tatsächlich auf Reisen zu gehen.
Wenn die Arbeiter am Ende ihrer Schicht die Färberei verließen, tauchte ich den
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