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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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niemand ist darin besser als unser Tintoretto.»Rotbart nickte, während er jeden Pinsel einzeln in die Hand nahm und von mir wissen wollte, wann ich die großen und wann die kleinen benutze, welche für Gouache- und welche für Ölzeichnungen sind. Nie habe er geglaubt, dass sich ein Maler ein solches Arsenal zulegen müsse. Neugierig stöberte er zwischen den in der Werkstatt verstreuten Leinwänden. Sachen, die seit Monaten vor sich hin trockneten. Die Grablegung Christi hatte Dominico bereits in einen Holzkäfig gepackt, der zum Transport nach Santa Maria Maggiore bereitstand. Mein Gast rückte ein paar Abgüsse zur Seite, drehte Statuen hin und her und musterte argwöhnisch die unfertigen Portraits längst verstorbener Dogen und Prokuratoren.
    Bei allem Respekt für mein unbestreitbares Talent, so erläuterte er, würde er dennoch die Portraits von Tizian und Paolo Veronese bevorzugen, die er für prunkvoller halte. Während mich anscheinend nur Augen und Gesichter interessierten. Seiner Meinung
nach würde ich dem Rang der Personen einen zu geringen Wert beimessen. Die Portraits seien ihm zu intim - wie ein privates Gespräch zwischen mir und dem Motiv. Als würde ich meine Modelle aus zu großer Nähe betrachten, durch ein Schlüsselloch - ohne Ehrfurcht und Achtung. Nie wolle er derart intim angeschaut werden. Vielleicht dürfe niemand so intim angeschaut werden.
    Und um ehrlich zu sein, überkomme ihn beim Anblick dieser aufdringlichen und vor Gier strotzenden Gesichter ein gewisses Unbehagen. Die Portraits seien höchst merkwürdig - ja verrückt. Daher müsse wohl auch ich in gewisser Weise seltsam und verrückt sein.«Das glauben meist diejenigen, die nicht malen können», entgegnete ich ihm. Wenn ein Maler die Schönheit eines Engels, die Gefühlskälte eines Soldaten oder die Gier eines Dogen darstellt, dann stellt der Maler nicht seine eigene Schönheit, Gefühlskälte oder Gier dar - er will sich einzig der Wahrheit nähern. Und die Wahrheit der Dinge liegt in ihrer äußeren Erscheinung verborgen, möglicherweise ist genau das ihr eigentliches Wesen. Doch er hat recht, ich schaue die Menschen aus zu großer Nähe an, ohne Respekt. Denn genau so schaue ich auch auf mich selbst.
    Kini flüsterte mir zu, dass unsere Exzellenz und Hochwürden gekommen sei, um einen Altarflügel für die Familiengruft im Dom seiner Heimatstadt bei mir in Auftrag zu geben: Er verstehe, dass ich zu erschöpft und ausgelastet sei, um ein Kunstwerk vom Original anzufertigen, und gebe sich daher mit einer Nachbildung zufrieden.«Ich nehme keinerlei Auftrag an», antwortete ich.«Ich male nicht mehr.»
    Meine jüngsten Bilder aber riefen keine große Begeisterung bei meinen Gästen hervor.«Sie sind zu dunkel», merkte Otto achtlos an.«Sie sind noch viel zu hell», erwiderte ich. Hier liegt der Unterschied zwischen einem Meister und einem Händler. Der Händler kommt und urteilt: zu viele Personen, zu viele oder zu undeutliche Gesichter, zu düster oder zu viel Licht. Er bewertet auf der Grundlage des allgemeinen Geschmacks. Das, was nicht
so aussieht wie das, was gefällt oder schon einmal da gewesen ist und Gefallen gefunden hat, verunsichert ihn oder missfällt ihm. Der Meister bewertet auf der Grundlage des Risikos. Für ihn ist es nie hell oder dunkel genug, gibt es nie zu viele oder zu wenige Figuren. Im Extrem kennt er sich nämlich besonders gut aus.
    «Die Leute wollen schöne Farben, Maestro», warf Kini nachdenklich ein.«Momentan bietest du dem Auge rein gar nichts. Du beschäftigst dich mit Grauschattierungen, Braun- und Weißtönen. Das hier ist alles einfach nur dunkel. Ich frage mich, wohin dich das führen soll.»Da kommt nichts mehr, hätte ich gerne geantwortet, dieses Essenzielle, das dich so enttäuscht, ist der Schlusspunkt einer langen Suche. Alles, was ich jetzt noch will, ist, allein mit Licht malen. Die Reduktion auf das Wesentliche ist ein Prozess, der ein ganzes Leben dauert. Einst hatte ich das Bedürfnis, große Massen darzustellen, Aufruhr, Landschaften, Bewegung. Nun brauche ich gar nichts mehr. Nicht einmal einen Körper. Eine Pupille und eine Mundfalte genügen mir, um zu erzählen, was einen Menschen ausmacht, der Glanz eines Blattes, um zu erzählen, was die Welt ausmacht. Beinahe achtzig Jahre habe ich gebraucht, um an diesen Punkt zu kommen. Und nicht die Ratlosigkeit der Händler oder Kunden verbittert mich, sondern die Gewissheit, dass ich all das, was ich gelernt habe, mit mir nehmen

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