Tintorettos Engel
posieren, und ertrug dabei ihre Verachtung und etliche Seitenhiebe. Unvorstellbar, wie verletzlich ein männlicher Akt sein kann. Ich brauchte sie nur anzuschauen, schon wurden sie unruhig und verloren die Fassung. Im Lazarett kaufte ich Leichenkörper, um dem Geheimnis der Muskeln und Gelenke auf die Spur zu kommen. Ich analysierte die Arbeiten großer Maler und Bildhauer, kopierte sie so lange, bis ich den Schlüssel zu ihrer Größe gefunden hatte. Von ihnen und ihren Erkenntnissen habe ich gelernt - denn nie war ich so hochmütig zu glauben, es könne mich ohne diejenigen geben, die vor mir gelebt hatten.
Wenn ich abends nach Hause zurückkehrte und an einer Tischecke, die ich mir gegen meine zehn Brüder und elf Schwestern hart erkämpfen musste, einen Teller Suppe in mich hineinlöffelte, sagte ich mir immer wieder: Du wirst nicht auf immer und ewig ein unbekannter Lakai irgendeiner Werkstatt bleiben. Aus dir
wird kein namenloser Handwerker, auch kein schlecht bezahlter Kopist. Du wirst nicht die Entdeckungen anderer heimlich zu Geld machen. Du wirst du selbst sein, Jacomo. In unserem engen Bett zerkratzte mir mein Bruder Domenico mit seinen Zehennägeln oft das Gesicht. Ihm zeigte ich meine Bilder, meine Fortschritte, mit ihm teilte ich meine Träume.«Bist ja richtig gut, du kleiner Teufelszwerg», sagte er lachend,«wenn du reich wirst, dann nimm mich zu dir.»
Mit achtzehn verkaufte ich meine ersten Bildchen auf der Straße: In den Gassen der Mercerie hatte ich einen Stand eröffnet. Meine Kollegen waren keine Salon-, sondern Straßenmaler, die wahrhaft Mumm in der Hose hatten und redeten, wie ihnen der Schnabel gewachsen war. Sie lebten mit der Faust in der Tasche und dem Fluch auf der Zunge. Ich bekam mit, wie sie von Schergen verhaftet und abgeführt wurden. Ich sah sie auf dem Podest vom Markusplatz am Pranger stehen, während ihnen der Speichel aus dem gewaltsam aufgerissenen Mund lief. Ich schaute zu, wie ihnen der Henker mit dem Messer die Zunge abschnitt und in einen großen Korb warf. Ich sah sie auf eine Galeere an Bord gehen, wo sie an Füßen gekettet ihre Strafe abbüßten. Und ich sah, wie sie tot zurückkehrten - oder bis zur Unkenntlichkeit entstellt, kahlköpfig, verkrüppelt, den Rücken von langen Striemen übersät. Ich habe diese Freundschaften verleugnet. Sie zu vergessen haben mir die Venezianer jedoch nie ermöglicht.
Heute heißt es, ich hätte als Missionar verkleidet armen Wilden Nippes untergeschoben und sie glauben gemacht, meine Perlen seien mehr wert als Gold - oder ich hätte wie ein Scharlatan mit Wundertaten Skeptiker angelockt. Und meinen Bildern sehe man noch immer die Lust an zu verzaubern, zu erstaunen und zu provozieren. Jenes ordinäre Bedürfnis, auf mich aufmerksam zu machen und Lorbeeren zu sammeln. Weder Missionar noch Scharlatan bin ich jemals gewesen, noch habe ich Schmuggelware oder Perlen verkauft. Das, was ich verkaufte, hatte Wert,
das wusste ich. Tatsache ist, dass ich meine Kunden wie eine Hure anlockte. So gehörte es sich für einen Straßenmaler. Das hatte ich mir bei einer alten, hässlichen Schachtel abgeguckt, die selbst ein Hund hätte links liegen lassen. Und trotzdem.«Schöner Mann», sprach sie und hakte sich bei einem Passanten unter,«ich lass dich vom süßesten Zucker kosten, den du je gegessen hast, und sollte er dir nicht schmecken, dann schenke ich ihn dir. Komm mit, hab keine Angst, du wirst dich wundern.»Bis ihre Stimme versagte, redete sie unbeirrt auf ihr Opfer ein, dass sie ihm eine Stelle zeige, wo er ein ausgezeichnetes Nadelöhr für seinen gierigen Faden finde - und immer so weiter. Sie machte sich regelrecht um die Aufmerksamkeit der Passanten verdient, die auch ich mir erarbeitete.
Was ich tat, war eines Maestros nicht würdig: Ich erniedrigte die Kunst, indem ich sie in den Gassen feilbot. Was aber ist Kunst, wenn sie als Chimäre im Kopf dessen verharrt, der sie erträumt? Mein Kopf sprudelte über vor Ideen, und ich suchte lediglich nach einer Gelegenheit, sie herauszulassen, auf eine Leinwand zu bringen, in bunten Farben auf eine Wand zu malen.
Ich nahm mir die Freiheit, obwohl ich sie mir nicht leisten konnte. Denn Freiheit gibt es nicht zu kaufen. Kaum hatte ich das erste Gemälde veräußert, verließ ich mein bequemes Elternhaus. Das Glück ist mit den Wagemutigen, sagte ich mir. Nie werde ich wieder zurückgehen. Nie als Färber arbeiten. Mir niemals eine Anstellung suchen und meinen Hintern auf irgendeinem Amt
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