Tintorettos Engel
werde.
Auch ich habe Farben geliebt - den blauen Himmel im Mai, die Lichtreflexe auf einem scharlachroten Seidenärmel oder den rosaroten Sonnenuntergang hinter einer grünen, vermoosten Gondelwerft. Das Erste, was mich mein Vater lehrte, war, mich mit kostbaren und auffallend schönen Dingen zu umgeben und mir die Hände schmutzig zu machen, um an sie heranzukommen. Wir wohnten in einem niedrigen Bau an einem engen und immerzu düsteren Kanal. Die Häuser um uns herum waren so hoch, dass wir zu keiner Zeit Sonnenlicht hatten. Die Werkstatt meines Vater
aber lag am Rande der Stadt auf einem Zipfel von Cannaregio, der zum Festland zeigte - eine Gruppe von Inselchen, auf denen einzig Werften, Fabriken und Gerbereien angesiedelt waren, stets eingehüllt von rötlichen, gelben oder schwarzen Rauchwolken, die nach Ammoniak und Schwefel rochen, und wo sich selbst das Wasser in den Kanälen rot und schwarz färbte.
Die Werkstatt war kaum mehr als eine an drei Seiten offene Ziegelhütte: All das Tageslicht, das wir zu Hause entbehrten, wurde von den drei Mauern aus Luft eingefangen. Überall auf der Erde standen große, rechteckige und stets bis zum Rand gefüllte Bottiche. Wir nannten sie Kähne, denn um einfache Wannen handelte es sich wahrlich nicht. Hier ein Kahn mit granatrotem, da mit zitronengelbem, dort mit smaragdgrünem und in der Ecke mit blauem Wasser. All die Farben, die uns die erdrückende Finsternis in der Stadt versagte, schienen hier hineingeströmt und gefangen zu sein. In diese Bottiche - die mit einem R für«Robusti»gekennzeichnet waren, der Signatur unseres Betriebs - tunkte mein Vater seine Tücher. Und die waren nicht aus Leinen, Baumwolle oder Samt: Sie waren aus Seide.
Mit langen Glasstäben stemmten die Arbeiter die Tücher in die Wannen, wo sie so lange in ihrem Bad verweilten, bis das letzte Körnchen durch den Trichter der Sanduhr gerieselt oder früher Morgen geworden war. Als hätte er Durst, sog der Stoff die Farben gierig in sich auf. Anschließend wurden die Tücher, so groß und breit wie eigens für Riesen angefertigte Bettlaken, im Kanal gewaschen und zum Trocknen aufgehängt. Da die blauen und safrangelben Tücher in der Sonne trocknen mussten, wurden sie auf Rahmen gespannt und im Freien an Pfähle genagelt, die man zuvor in die Erde rammte - während die roten, grauen und violettfarbenen im Schatten trockneten. So tropfte ein einzigartiger Zauberregen von den Dachbalken hinab auf den Bretterboden. Als Kind legte ich mich manchmal in der Werkstatt auf die Erde und ließ mich von roten, scharlochroten und violetten
Regentropfen betupfen. Auch heute habe ich beim Anblick meiner Hände den Eindruck, als steckte noch der eine oder andere Tropfen Farbe in meinen Poren.
Wenn ich an meine weit entfernte Kindheit zurückdenke, sehe ich nicht mein Zuhause, das Zimmer, in dem ich fast achtzehn Jahre lang schlief, oder das Bett, das ich mit meinem Bruder Domenico teilte, meinem Spiel- und Abenteuerkameraden und meinem ersten Freund. Ich sehe auch nicht das verhärmte Gesicht meiner Mutter - unentwegt verärgert und erzürnt über mich, sich selbst und ihr Schicksal. Noch sehe ich die Gesichter meiner zehn Brüder und elf Schwestern, die sich in meinem Kopf zu einer Horde Unbekannter vermengen. Sie sind im Übrigen alle seit langem tot: Mich, der obendrein der Älteste ist, haben sie übrig gelassen, weil keiner von ihnen dem Leben standgehalten hat. Selbst meinen Vater sehe ich nicht, obwohl er der Held meiner ersten Lebensjahre gewesen ist: Ein quirliger Knirps, der vergnügt wie eine Ente schnattern, aber seine wuselnde Kinderschar trotzdem mit einem Blick zum Schweigen bringen und mitunter auch mal härter hinlangen konnte. Wenn ich an meine Kindheit zurückdenke, dann sehe ich die Färberei meines Vaters.
Die riesigen, lichtdurchfluteten Räume. Die Kessel und von herben, berauschenden Dämpfen umnebelten Feuerstellen mit Kübeln, in denen es köchelte und sich geheimnisvolle Pulver auflösten. Die Lager, in denen reihenweise Fässer standen, die wie alte Schriftrollen von allerlei aufregenden Dingen erzählten, von Färberbäumen und Färberwaid, von Eichenrinde, Römischem Vitriol, Brasil, Galläpfeln, Indigo, Granatapfelbäumen, Orangenschalen und Kermes. Ich sehe die Kähne, in denen Tücher stunden- und tagelang oder für die Zeit eines Bußgebets im Bad lagen, die Glasstäbe, den bunten Regen auf Gesicht und Händen, die Laken der Riesen, die Trockenflächen entlang der
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