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Tintorettos Engel

Titel: Tintorettos Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melania G. Mazzucco
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ihr, dass nicht das Kind auf die Idee gekommen sei, sondern dass ich beschlossen habe, Marietta bei mir aufzunehmen.
    «Hast du den Verstand verloren?», fragte mich meine Ehefrau lachend.«Du willst einem Mädchen malen beibringen? Was soll sie damit anfangen? Das ist pure Zeitverschwendung. Wie kannst du nur so undankbar sein. Ich habe dir doch als Allererstes einen Jungen auf die Welt gebracht! Warte noch ein paar Jahre, und du kannst Dominico unterrichten. Außerdem sagt mein Horoskop, dass auch das nächste ein Junge wird», fügte sie hinzu und streichelte mit meiner Hand über ihren Bauch. Wir erwarteten unser zweites Kind in wenigen Tagen.«Einer wird dich bestimmt mit Genugtuung erfüllen und deinen Namen weitertragen.»«Du irrst dich», erwiderte ich,«ab heute ist dies unser Junge.»
     
    Wir waren unzertrennlich. Nicht ein Tag, an dem sie mir nicht zur Seite stand. Wohin ich auch ging, ich nahm sie mit. Sie folgte mir wie mein Schatten, spiegelte mich wie ein Spiegel. Die Jahre, in denen mich Marietta beobachtet und mit ihrer stürmischen Liebe überschüttet hat, waren die fruchtbarsten meines Lebens. Daher kam es, dass ich ihr eines Tages den Spitznamen«Funke»gab: Denn sie war der Funke, der mich wahrhaft entzündet hat. Wenn ich heute an diese Jahre zurückdenke, kommen sie mir wie eine unendlich lange Zeit vor. Sie waren der Sommer meines Lebens: ein ewig währender Julitag mit schier endlosen Stunden und nicht schwinden wollendem Licht. All das, was ich so lange Zeit zügeln und unterdrücken musste, brach mit voller Wucht aus mir heraus.
Stets hatte ich mir Arbeit suchen müssen: Jetzt begann die Arbeit, mich zu suchen. Und ich nahm alles an. Marietta war an meiner Seite.
    Sie ging mit, wenn ich Leinwände kaufte, durch die Lager der Leinentuchhändler schlenderte und mit der Fingerkuppe die Fadendichte und den Widerstand des Zettels prüfte.«Fass alles an», forderte ich sie auf,«wenn du nicht die Unterlage abtastest, wirst du nie wissen, wie viel Farbe sie aufsaugt.»Und Marietta tastete. Ihre Spuren finden sich auf jedem Hanf und Leinen wieder, das ich bemalt habe. Um sie nicht auszuwischen, bedeckte ich sie zuweilen nur mit einem sanften Pinselstrich.
    Da die so arg beschäftigten Politiker keine Zeit hatten, für das offizielle Portrait zu posieren, das der Staat für seine Diener anfertigen ließ, schritt Marietta gemeinsam mit mir durch die langen Flure im Dogenpalast, wo ich die Herren studierte, während sie um Stimmen feilschten oder mit ihren Sekretären wichtige Staatsangelegenheiten besprachen.«Kannst du auch Richter werden?», fragte mich Marietta.«Nein.»«Und Anwalt der Republik?»«Nein.»«Bezirksvorsteher?»«Nein.»«Prokurator?»«Nein.»«Podestat?»«Nein.»«Senator?»«Nein.»«Und Doge?»«Nein.»«Aber warum nicht?»«Ich gehöre nicht dem Geburtsadel an», erklärte ich ihr.«Was heißt das, nicht dem Geburtsadel angehören?»«Nur wer einen gewissen Familiennamen trägt, ist adelig.»«Und?»«Und nichts, mein Funke, das ist alles.»
    Auch zum Schlachter nahm ich sie mit. Von der nahe gelegenen Insel verpestete ein herber, fauliger Gestank nach Innereien und Eingeweiden die Luft. Fliegenschwärme kreisten wie schwarze Wolken über den Blutlachen.«Wenn du erbrichst, bist du ein Mädchen», ermahnte ich sie, als wir über die Türschwelle traten. Sie presste die Hand vor den Mund. Die zum Teil in Eisenkäfigen eingesperrten Tiere wurden von Hafenarbeitern von den Schiffen gezerrt. Schweine, Rinder, Kälber und Ziegen verschwanden in einem niedrigen Gebäude, das am äußersten Stadtrand
zwischen Schilffeldern verborgen lag, damit die Venezianer das Blutbad nicht den ganzen Tag mit ansehen mussten.«Ich möchte ein weißes Pferd ausleihen», teilte ich eines Tages dem Wachjungen mit.«Ich werde es einige Tage benötigen.»Sie überließen mir einen blinden Gaul, der so alt war, dass er seinen Kopf nicht mehr aufrecht halten konnte. Doch das Pferd muss stark gewesen sein, denn noch immer hatte es etwas von einem Streitross.«Behalten wir es, nachdem du es gemalt hast, Papa?», fragte mich Marietta, während Schila es nach Hause trieb.«Für wen hältst du dich? Eine Prinzessin?», fragte ich.«Nein, wenn ich fertig bin mit Zeichnen, wird es jemand verspeisen, sein Fleisch ist zart und reinigt das Blut.»
    Als Marietta dem Pferd, während ich es malte, über die Blesse auf der Stirn streichelte, richtete es seine blinden Augen auf sie. Herr, du wirst es nicht glauben,

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