Tintorettos Engel
zu sein, kam sie eines Tages auf die aberwitzige Idee, ein Haus über den Bäumen zu bauen. Stets versicherte sie mir, niemals größer zu werden als ich. Und tatsächlich wurde sie es nicht, obwohl sie mir als Amazone wie ihre Mutter lieber gewesen wäre. Dadurch, dass sie klein blieb, hatte ich den Eindruck, die Zeit
wäre auf wundersame Weise stehen geblieben. Und mein Sommer würde ewig währen.
Siehst du, Herr, mit über fünfundvierzig Jahren, als Ehemann und Vater, als Maler von durchaus ehrbarem Ruf, stand ich wie ein Verbrecher in tiefster Nacht mit meiner Komplizin auf den Schultern auf einer Leiter. Marietta passte das Gemälde in die Kannelierung der vergoldeten Holzlatten ein, schob und drückte es mit ihren Fingerspitzen zurecht und fixierte es mit winzigen Keilen, damit es nicht herunterfiel. So standen wir da, wagten kaum zu atmen, um nicht den leisesten Laut von uns zu geben. Ich, meine kleine Tochter und Schila: Niemand anderem auf der Welt hätte ich vertrauen können. Immer wenn sie mit dem Finger über die Leinwand fuhr, schien diese einen Seufzer auszustoßen.«Papa», flüsterte Marietta auf einmal,«warum tun wir das eigentlich? »
Am liebsten wäre ich ihr die Antwort schuldig geblieben. Aber man kann ein Kind nicht anlügen. Es gibt keine schmachvollere Sünde, als den, der an einen glaubt, zu betrügen.«Weil Jacomo Robusti noch nie einen Wettbewerb gewonnen hat, Marietta», erklärte ich ihr,«und weil er dieses Bild unbedingt malen will. Er wird es der Bruderschaft schenken, und sie werden den Wettbewerb absagen. Und weil dein Vater einen Traum hat, und zwar für diese Bruderschaft zu malen und sich einen Namen zu machen, und wenn jemand einen Traum hat, muss er alles dafür tun, um ihn zu verwirklichen.»«Auch wenn es nicht erlaubt ist?», fragte sie leise.«Auch dann», antwortete ich.
Da ich Marietta nicht in die Schule schickte, lernte sie keinen anderen Lehrer kennen als mich. Ich lehrte sie, mit Pinsel und Stift ihren Namen zu schreiben. Ich lehrte sie, weder mit Doppelschritt noch mit Fuß, Elle oder Handbreit zu rechnen, sondern mit einem Maß, das nur in unserem Land galt: dem Tintoretto. Ein Tintoretto entspricht fünf Ellen, auf kleinerem Maß wollte ich nicht malen.
So hielt sie, immer wenn mir ein Angebot unterbreitet wurde, das Nahtband an die Wand und sagte zum Beispiel:«Zwei Tintoretto und ein Viertel, Maestro, diese Arbeit nehmen wir an!»Man hielt es für eine sonderbare Art, einem Kind Mathematik beizubringen. Ich aber traue den Schulen nicht. Zu sehr habe ich mich gelangweilt, während ich einem Lehrer zuhörte, der mir nichts anderes vermittelte als sein verzweifeltes Verlangen, woanders zu sein als dort, wo er gerade war. Mit mir hat sich Marietta nie gelangweilt. Und ich auch nicht mit ihr.
Eigentlich empfinde ich Kinder als lästig. Ihre Launen, ihre grausame Art und ihre Machtlosigkeit lösen ein beklemmendes Gefühl in mir aus. Bis ich sie endlich malen konnte, habe ich regelrecht Qualen durchlitten, sehen sie sich doch alle gewissermaßen ähnlich. Erwachsene sind viel interessanter. Erst das Leben verleiht dem Menschen seinen einzigartigen Charakter. Erst Erfahrungen, Schmerz, Verlust, Freude und Enttäuschung machen ihn zu einem einmaligen und überaus kostbaren Lebewesen. Marietta aber war anders. Vielleicht weil sie nie wirklich ein Kind gewesen ist. Weder ihre Mutter noch ich haben ihr das erlaubt. Mit Mütze und einer schweren Holzkiste voll Kohle- und Kreidestiften bewaffnet, die sie sich vor die Brust klemmte, trippelte sie neben mir her. Sollte Marietta darunter gelitten haben, dass ihre Mutter sie verlassen hat, sollte sie sie je vermisst haben, dann hat sie es nie gezeigt.
Viele Jahre später, als Marietta uns verließ, erzählte mir Faustina, dass Marietta sie einmal gefragt habe, wo in Venedig die Armen beerdigt würden. Da Faustina nicht wusste, was sie erwidern sollte und warum ihr Marietta eine solche Frage stellte, sagte sie bloß, dass sie sich nicht zu sorgen brauche, wir seien zwar nicht reich, aber auch nicht bitterarm. Daraufhin habe Marietta gefragt, wo man denn die Kranken beerdige, und erneut versuchte Faustina, sie zu beschwichtigen, sie solle sich keine Sorgen machen, denn wir seien ja nicht krank, insbesondere sie nicht, habe sie doch, wenngleich klein und blässlich, eine kräftige Konstitution
und nie an Masern oder Pocken gelitten. Doch Marietta muss die gleiche Frage noch einer anderen Person gestellt haben, von der sie
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